Massenentlassungsanzeige und Schwellenwerte

1. Die Anzeigepflicht nach § 17 KSchG knüpft an die tatsächliche Entlassung, also das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, nicht aber an den Ausspruch der Kündigung an. Deshalb ist für die Anzeigepflicht nicht die Beschäftigtenzahl im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs, sondern in dem der tatsächlichen Vollziehung der Entlassung maßgeblich.

 

2. Für die tatsächlichen Voraussetzungen der Anzeigepflicht nach § 17 KSchG ist der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig. Es gilt eine abgestufte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 24. Februar 2005 - 2 AZR 207/04 § 17 KSchG

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Bild: Stefan-Yang / stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger war seit 1991 als Maurer bei der Beklagten, die ein Bauunternehmen betrieb und zuletzt etwa 20 Arbeitnehmer beschäftigte, tätig. Am 31.1.2002 teilte der Inhaber der Beklagten den Mitarbeitern auf einer Versammlung mit, er habe am 15.1.2002 beschlossen, den Betrieb zum 31.10.2002 stillzulegen. Am 25.2.2002 hörte die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur beabsichtigten Kündigung der Arbeitnehmer an.

Dem Betriebsrat wurde eine Liste mit Namen von 21 Arbeitnehmern übergeben. Darin war auch die Ehefrau des Inhabers der Beklagten, Frau R, aufgeführt. Deren Arbeitsverhältnis war bereits im September 2001 zum 28.2.2002 gekündigt worden. Ferner war der am 30.8.1983 geborene Auszubildende J auf der Liste vermerkt. Das Arbeitsverhältnis mit Herrn J war zum 15.2.2002 beendet worden. Nicht enthalten war Herr L, der befristet in den Sommermonaten von 1997 - 2001 aushalf. Der Betriebsrat widersprach den Kündigungen mit Schreiben vom 1.3.2002 und verlangte den Abschluss eines Sozialplans, was die Beklagte ablehnte. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG unterblieb. Mit Schreiben vom 19.3.2002 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 31.10.2002. Der Kläger hält die Kündigung wegen unterlassener Massenentlassungsanzeige für unwirksam und verlangt hilfsweise Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG.

Entscheidung

Das BAG bestätigte die Klageabweisung durch das LAG Frankfurt/M. (v. 12.2.2004 - 11 Sa 1537/02). Die Kündigung ist durch die Betriebsstilllegung sozial gerechtfertigt i.S.d. § 1 Abs. 2, 3 KSchG.

Die Kündigung ist nicht wegen unterlassener Massenentlassungsanzeige (§ 17 KSchG) unwirksam. Es bestand keine Anzeigeobliegenheit nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG, da die Beklagte nicht mehr als 20 Arbeitnehmer "entlassen" hat. Das BAG bleibt seiner Rechtsprechung (Urt. v. 18.11.2003 - 2 AZR 79/02, BB 2004, S. 1223) treu, dass es für die Anzeigepflicht nicht auf die Beschäftigtenzahl im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs (hier 19.3.2002) ankommt, sondern im Zeitpunkt der tatsächlichen Vollziehung der Entlassung. Zum 31.10.2002 hat die Beklagte nicht mehr als 20 Arbeitnehmer "entlassen".

Beim Geltungsbereich des § 17 KSchG ist - wie etwa auch bei den Regelungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG und § 111 Satz 1 BetrVG - auf die Regelanzahl der Beschäftigten abzustellen. Dies ist nicht die durchschnittliche Beschäftigtenzahl in einem bestimmten Zeitraum, sondern die normale Beschäftigtenzahl des Betriebs, d.h. diejenige Personalstärke, die für den Betrieb im Allgemeinen, also bei regelmäßigem Gang kennzeichnend ist. Erforderlich ist ein Rückblick auf die bisherige personelle Stärke und eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung, wobei Zeiten außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsanfalls nicht zu berücksichtigen sind. Im Fall einer Betriebsstilllegung kommt naturgemäß nur ein Rückblick in Betracht. Im Stilllegungsfall ist auch bei einem sukzessiven Vorgehen des Arbeitgebers mit mehreren Entlassungswellen der Zeitpunkt maßgeblich, in dem zuletzt noch eine normale Betriebstätigkeit entfaltet wurde.

Frau R war danach nicht mitzuzählen, da ihr bereits im September 2001 gekündigt wurde, also vor der sowohl bei § 17 KSchG wie § auch 111 BetrVG maßgeblichen unternehmerischen Entscheidung. Ihre Entlassung beruhte damit nicht auf dem Stilllegungsbeschluss. Herrn L wurde nicht gekündigt; sein letztes Arbeitsverhältnis endete durch Befristungsablauf im Oktober 2001, also ebenfalls Monate vor Stilllegungsbeschluss.

Der Anspruch auf Nachteilsausgleich nach §§ 113, 111 Satz 1 BetrVG scheiterte ebenfalls an dem Schwellenwert von 20 regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmern: Inhaberehefrau R war nach § 5 Abs. 2 Nr. 5 BetrVG bei der Berechnung der Belegschaftsstärke nicht zu berücksichtigen. Herr L war seit 1997 in zwei von fünf Jahren für weniger als sechs Monate, in drei Jahren etwas länger für die Beklagte tätig. Er wäre nur dann mitzuzählen gewesen, wenn er normalerweise während des größten Teils des Jahres beschäftigt worden wäre (vgl. zu § 23 KSchG: LAG Hamm v. 3.4.1997 - 4 Sa 693/96). Das Abstellen des LAG auf das letzte Jahr 2001 (< 6 Monate) ist nicht zu beanstanden.

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Konsequenzen

Das Urteil ist in zweierlei Hinsicht besonders bedeutsam:

1. Das durch den EuGH (v. 27.1.2005 - C-188/03, AuA 2005, S. 242ff. und 341ff.) erzeugte Beben wirkt nach: Danach ist die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis, das als "Entlassung" i.S.d. § 17 KSchG gilt. Der Arbeitgeber ist deshalb verpflichtet, das zweiwöchige Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG durchzuführen und danach der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er eine anzeigepflichtige Kündigung erklärt. Die Kündigung kann unmittelbar nach Eingang der wirksamen Anzeige bei der Agentur für Arbeit ausgesprochen werden. Dem folgen inzwischen auch die Arbeitsagenturen (Bundesagentur Information v. 17.6.2005; Merkblatt Nr. 5 sowie Formulare, Stand Juni 2005).

Trotz und in Kenntnis dieser EuGH-Entscheidung bleibt das BAG auf seiner bisherigen Linie: Es versteht unter "Entlassung" nach wie vor die tatsächliche Beendigung der Beschäftigung, i.d.R. mit Ablauf der Kündigungsfrist, und begründet das mit dem arbeitsmarktpolitischen Zweck. Nach Auffassung des BAG gilt § 17 KSchG in seiner bisherigen Interpretation wohl weiter und ist eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich (ebenso: ArbG Wuppertal v. 12.5.2005 - 5 Ca 506/05; ArbG Krefeld v. 14.4.2005 - 1 Ca 3731/04; ArbG Lörrach v. 24.3.2005 - 2 Ca 496/04; a.A. ArbG Bochum v. 17.3.2005 - 3 Ca 307/04; ArbG Berlin v. 30.4.2003 - 36 Ca 19726/02 - ZIP 2003, S. 1265).

2. Wichtig sind ferner die Ausführungen zur Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Voraussetzungen der Anzeigepflicht nach § 17 KSchG. Diese trägt zunächst der Arbeitnehmer, d.h. er muss sowohl die Zahl der beschäftigten als auch die Zahl der entlassenen Mitarbeiter im Streitfall beweisen. Dabei gelten die Grundsätze der sog. abgestuften Darlegungs-/Beweislast: Der Arbeitnehmer genügt im Rahmen des § 17 Abs. 1 KSchG in der Regel seiner Darlegungslast zunächst, wenn er die äußeren Umstände schlüssig darlegt, die für die Annahme sprechen, dass die betreffenden Schwellenwerte erreicht sind. Hat er schlüssig derartige äußere Umstände vorgetragen, hat der Arbeitgeber hierauf (§ 138 Abs. 2 ZPO) im Einzelnen zu erklären, aus welchen rechtserheblichen Umständen folgen soll, dass der Schwellenwert nicht erreicht wird. So kann er zu einzelnen Personen vortragen, dass sie etwa nicht Arbeitnehmer oder bereits gekündigt waren (wann, warum). Darauf darf wiederum der Arbeitnehmer nicht mit bloßem Bestreiten erwidern.

Praxistipp

Der Gesetzgeber ist gefordert, die verfahrene Rechtslage schnellstmöglich durch eine Anpassung des § 17 KSchG zu lösen (Wolf, AuA 6/05, 340). Bis dahin sollte der vorsichtige Arbeitgeber bei "Neufällen" sowohl vor Ausspruch der Kündigung bzw. Abschluss von arbeitgeberseitig veranlassten Aufhebungsverträgen als auch erneut vor Ablauf der Kündigungsfrist eine Massenentlassungsanzeige erstatten. Davor ist das zweiwöchige Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat zu durchlaufen (§ 17 Abs. 2, 3 S. 3 KSchG), was im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen geschehen kann, aber klargestellt werden sollte. Dem Arbeitgeber, der im Einklang mit der (bisherigen) BAG-Rechtsprechung gekündigt und erst nachher die Massenentlassung gegenüber der Arbeitsagentur angezeigt hat ("Altfälle"), ist für den Zeitraum nach Erlass des abweichenden Urteils des EuGH v. 27.1.2005 Vertrauensschutz zu gewähren, so dass die Kündigungen nicht wegen Verstoßes gem. §§ 17 ff. KSchG unwirksam sind (so LAG Köln v. 25.2.2005 - 11 Sa 767/04).

RA Volker Stück, Stuttgart

Redaktion (allg.)

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