Kündigungsschutz für „Alt-Arbeitnehmer“

Der abgesenkte Schwellenwert des §23 Abs.1 KSchG (fünf Arbeitnehmer) kann auch dann maßgeblich sein, wenn es nach dem 31.12.2003 zwar rechtliche Unterbrechungen des zuvor begründeten Arbeitsverhältnisses gegeben hat, der Arbeitnehmer aber– zusammen mit einer ausreichenden Anzahl anderer „Alt-Arbeitnehmer“– ununterbrochen in den Betrieb eingegliedert war.

(Leitsatz des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 23. Mai 2013 – 2 AZR 54/12

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Bild: Corgarashu / stock.adobe.com
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Problempunkt

Unterfällt eine Kündigung durch den Arbeitgeber dem KSchG, bedarf sie der sozialen Rechtfertigung. Die Kündigung muss danach betriebsbedingt oder aus Gründen, die im Verhalten oder der Person des Beschäftigten begründet liegen, erfolgt sein. Findet das Gesetz dagegen keine Anwendung, benötigt eine ordentliche Kündigung regelmäßig keine Begründung.

Dem Anwendungsbereich des KSchG kommt daher eine überragende praktische Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund ist die Erweiterung oder Verkleinerung dieses Anwendungsbereichs auch regelmäßigen gesetzgeberischen Aktivitäten unterworfen. Zuletzt wurde der Anwendungsbereich des KSchG dahingehend modifiziert, dass die erforderliche Betriebsgröße von fünf auf zehn Arbeitnehmer heraufgesetzt wurde. Mit dieser Änderung normierte man jedoch einen Bestandsschutz für bereits laufende Arbeitsverhältnisse.

Nach §23 Abs.1 KSchG findet das KSchG auf Betriebe Anwendung, in denen i.d. R. mehr als zehn Arbeitnehmer– ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten– angestellt sind, wenn deren Arbeitsverhältnis nach dem 31.12.2003 begonnen hat. Für Arbeitsverhältnisse, die vor dem 1.1.2004 begonnen haben, verbleibt der Schwellenwert bei fünf.

Fraglich ist vor diesem Hintergrund indes, ob der alte Schwellenwert auch dann noch einschlägig ist, wenn es nach dem 31.12.2003 zu rechtlichen Unterbrechungen des zuvor begründeten Arbeitsverhältnisses gekommen ist.

In der vorliegenden Entscheidung stritten die Parteien um genau diese Frage. Der Arbeitnehmer war bereits vor dem 1.1.2004 bei dem Arbeitgeber beschäftigt. Unter dem 31.3.2005 beendeten die Parteien das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag. Zugleich schloss der Mitarbeiter zum 1.4.2005 ein Folgearbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber, der einen gemeinsamen Betrieb mit dem Altarbeitgeber geführt hatte. Nach einer in Bestandskraft erwachsenen Kündigung nahm der Beschäftigte im direkten Anschluss zum 1.12.2005 ein erneutes Arbeitsverhältnis mit dem ursprünglichen Arbeitgeber auf. Als dieser nunmehr seinerseits eine Kündigung aussprach, erhob der Arbeitnehmer Kündigungsschutzklage.

Streitentscheidend war, ob das KSchG Anwendung findet. Dafür war wiederum maßgeblich, ob vorliegend der Schwellenwert von fünf Arbeitnehmern greift, da nur dieser beim Arbeitgeber durchgehend überschritten wurde, nicht jedoch der Wert von zehn Arbeitnehmern.

Entscheidung

Das BAG erklärte das KSchG für anwendbar, weil der Schwellenwert von fünf Arbeitnehmern vorliegend greift.

Der alte Schwellenwert findet danach auch dann Anwendung, wenn seit dem 1.1.2004 eine rechtliche Unterbrechung erfolgt ist. Der Beginn des aktuellen Arbeitsverhältnisses liegt in Fällen einer rechtlichen Unterbrechung am Beginn eines vorangehenden Arbeitsverhältnisses, wenn die tatsächliche Beschäftigung des Mitarbeiters im Betrieb ohne relevante Zäsur geblieben und dort sowohl vor als auch nach der Unterbrechung die erforderliche Anzahl von „Alt-Arbeitnehmern“ beschäftigt ist. Dies gilt auch dann, wenn die Unterbrechung mit einem Wechsel des Arbeitgebers einhergeht, sofern die Identität des „virtuellen Altbetriebs“ und die Zugehörigkeit des Beschäftigten zu diesem Betrieb gewahrt blieben. Ein solcher virtueller Altbetrieb ergibt sich laut den Erfurter Richtern insbesondere aus dem Vorliegen eines gemeinsamen Betriebs oder erfolgten Betriebsübergängen nach §613a BGB. Zudem kann ein virtueller Betrieb auch dann vorliegen, wenn der Arbeitgeber die Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses bewusst mit dem Ziel herbeigeführt hat, den Bestandsschutz für „Alt-Arbeitnehmer“ zu beenden. Hieraus folgt jeweils ein Rückbezug des Beginns des Arbeitsverhältnisses auf den Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Arbeitsvertrags mit dem aktuellen Arbeitgeber.

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Konsequenzen

Auch mehr als zehn Jahre nach der Heraufsetzung des Schwellenwerts für die Anwendbarkeit des KSchG von mehr als fünf auf mehr als zehn Arbeitnehmer ist die Regelung des §23 Abs. 1 KSchG für „Alt-Arbeitnehmer“ im Auge zu behalten. War ein gekündigter Mitarbeiter bereits vor dem 1.1.2004 beschäftigt, müssen nur zu diesem Zeitpunkt und bis zum Ausspruch der Kündigung durchgängig mehr als fünf Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt gewesen sein.

Bei einem ohne Unterbrechungen laufenden Arbeitsverhältnis lässt sich diese Voraussetzung ohne größere Schwierigkeiten prüfen. Haben in der Zwischenzeit Betriebsübergänge stattgefunden, oder hat der Beschäftigte sein Arbeitsverhältnis mit anderen Rechtspersönlichkeiten neu begründet, die zu demselben Betrieb gehören, ist dieser Umstand jedoch deutlich schwieriger nachzuvollziehen.

Arbeitgeber sollten sich daher stets eines Restrisikos bewusst sein, wenn sie Kündigungen gegenüber „Alt-Arbeitnehmern“ aussprechen, die bereits vor dem 1.1.2004 beschäftigt waren, wenn der Betrieb den Schwellenwert von fünf fortlaufend überschritten hat.

Praxistipp

Vor dem Ausspruch einer Kündigung müssen Arbeitgeber stets alle Gründe durchprüfen, die deren Wirksamkeit entgegenstehen könnten. Die Anwendbarkeit des KSchG ist dabei von herausragender Bedeutung, weshalb man diese Selbstverständlichkeit gar nicht oft genug betonen kann.

Die Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs.1 KSchG nimmt Betriebe aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes aus, die höchstens zehn Arbeitnehmer beschäftigen. Diese Schwelle sollten Unternehmen daher auch beim Personalaufbau immer im Blick behalten.

Für Kleinbetriebe gilt zudem: Der Schwellenwert unterliegt gesetzgeberischen Veränderungen (auch wenn er derzeit in der politischen Diskussion nicht zur Disposition zu stehen scheint). Er lag bereits bei fünf Arbeitnehmern. Dieser Wert gilt – wie aufgezeigt – für Altfälle noch immer. Der Schwellenwert lag aber auch schon einmal bei zwanzig Arbeitnehmern.

RA und FA für Arbeitsrecht Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen, Direktor Kompetenz-Centrum für Wirtschaftsrecht Hamburg

Redaktion (allg.)

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