Gleichartigkeit und Warnfunktion bei Abmahnung

1. Verspätete Arbeitsaufnahme sowie Verletzung der Anzeige und Nachweispflicht im Fall von Arbeitsunfähigkeit sind gleichartige Pflichtverletzungen und berechtigen den Arbeitgeber zur Abmahnung.

 

2. Eine auf derart wiederholtes Fehlverhalten gestützte Kündigung kann sozial ungerechtfertigt sein, wenn den vorausgegangenen Abmahnungen die Warnfunktion fehlt ("leere" Drohung). Bei der Frage, ob eine Abmahnung eine ernst gemeinte Drohung enthält, ist insbesondere die Anzahl der vorausgegangen Abmahnungen von Bedeutung. Bei leichteren Verstößen, denen praktisch häufig drei Abmahnungen vorausgehen, kann regelmäßig nicht bereits die dritte Abmahnung als entwertet angesehen werden.

(Leitsatz des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 16. September 2004 - 2 AZR 406/03 § 326 Abs. 1 BGB

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger ist seit 1993 als Facharbeiter beschäftigt. Am 27.5.2000 wurde er schriftlich abgemahnt, weil er nicht spätestens am 4. Tag nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hatte. Zugleich wurde er schriftlich aufgefordert, künftig bereits am Tag nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine Bescheinigung vorzulegen.

Am 6.2.2001 erhielt der Kläger eine "2. Abmahnung", weil er am 5.1.2001 29 Minuten und am 19.1.2001 2 Minuten verspätet seine Schicht antrat. Bei der Verspätung von 2 Minuten hatte er zudem seinen Meister nicht informiert. Außerdem wurde beanstandet, dass er an zwei Tagen Zwischenwellen mit falschem Durchmesser gebohrt hatte, die nachgearbeitet werden mussten.

Eine "3. Abmahnung" erfolgte am 10.7.2001, weil der Kläger dreimal verspätet seine Schicht antrat, nämlich am 9.7.2001 (4 Minuten), 21.6.2001 (1 Minute) und 15.6.2001 (16 Minuten).

Alle drei Abmahnungsschreiben schlossen mit: "Wir weisen Sie mit allem Nachdruck darauf hin, dass durch diese wiederholte Pflichtverletzung der Bestand Ihres Arbeitsverhältnisses in hohem Maße gefährdet ist. Wir werden im Wiederholungsfall oder bei ähnlichen Pflichtverstößen in Zukunft das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis beenden."

Vier erneute Verspätungen (18.12.2001: 4 Minuten; 10.1.2001: 4 Minuten; 13.3.2002: 13 Minuten und 21.3.2002: 5 Minuten) ließ der Arbeitgeber ungeahndet.

Am Freitag, dem 5.4.2002, war der Arbeitnehmer krank und der Arbeitgeber erhielt am selben Tag ein Attest für diesen Tag. Am folgenden Montag, dem 8.4.2002, erschien der Arbeitnehmer nicht zur Arbeit (Frühschicht). Am Mittwoch, dem 10.4.2002, stellte der Arzt eine Folgebescheinigung aus, die den Zeitraum bis 12.4.2002 umfasste, die der Arbeitnehmer am Mittwoch einreichte. Dies nahm der Arbeitgeber zum Anlass, das Arbeitsverhältnis am 30.4.2002 ordentlich zum 31.5.2002 zu kündigen. ArbG und LAG Saarbrücken (Urt. v. 23.04.2003 - 2 Sa 134/02) gaben der Kündigungsschutzklage statt.

Entscheidung

Das BAG hob das LAG-Urteil auf und verwies die Sache zurück. Es stellt zunächst fest, dass der Arbeitnehmer in mehrfacher Hinsicht seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt habe, wenn auch - für sich betrachtet - nicht sehr gravierend:

Durch die wiederholten 4 Verspätungen (12/2002 - 3/2002) hat er seine Verpflichtung, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, verletzt. Dass der Kläger über erhebliche Arbeitszeitguthaben verfügte, ist unerheblich, da diese nicht dazu berechtigen, eigenmächtig zu spät zum festgelegten Schichtbeginn zu kommen.

Die Anzeigepflicht (§ 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG) ist dadurch verletzt, dass der Arbeitnehmer am Montag, dem 8.4.2002, den Arbeitgeber nicht gleich zu Beginn der Frühschicht um 5.45 Uhr über die fortbestehende Arbeitsunfähigkeit telefonisch unterrichtet hat.

Die Vorlagepflicht hat der Arbeitnehmer verletzt, da er der Aufforderung des Arbeitgebers in der Abmahnung vom 27.5.2000 (§ 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG; vgl. BAG v. 1.10.1997 - 5 AZR 726/96, AuA 1998, S. 209), die AU-Bescheinigung bereits am zweiten Tag der Erkrankung vorzulegen, nicht nachkam.

Da es sich um ein steuerbares Verhalten handelt, musste eine erfolglose Abmahnung vorausgehen. Die Einschätzung des LAG, dass den erteilten Abmahnungen, insbesondere der letzten, keine ausreichende Warnfunktion zukam, teilte das BAG nicht. Die drei erteilten Abmahnungen und die zur Kündigung herangezogenen Vorfälle betreffen gleichartige Pflichtverletzungen, weil sie Ausdruck einer spezifischen Unverlässigkeit des Arbeitnehmers sind. Der Arbeitgeber sei jeweils im Ungewissen, ob und wann die Arbeit aufgenommen werde und seine Dispositionsbefugnis ist beeinträchtigt. Unberechtigtes Fehlen und berechtigtes, aber nicht angezeigtes Fernbleiben von der Arbeit sind deshalb gleichartige Pflichtverletzungen (LAG Berlin v. 5.12.1995 - 12 Sa 111/95, AuA 1997, S. 26).

Die Verwendung des "werden im Wiederholungsfall kündigen", mindert die Drohung bzw. Ernsthaftigkeit der Abmahnungen nicht. Hätte die Beklagte in der Abmahnung weniger entschlossen formuliert, eine erneute Pflichtverletzung werde "vielleicht" zur Kündigung führen, so hätte der Kläger einwenden können, er sei nicht nachhaltig genug gewarnt worden. Wenn unter Umständen die in der Abmahnung enthaltene Warnung beim Arbeitnehmer die Hoffnung offen lässt, der Arbeitgeber werde vielleicht "Gnade vor Recht ergehen lassen", so entwertet dies die Warnung nicht. Ansonsten wäre gerade der bedachte, im Zweifel eher zur Nachsicht neigende Arbeitgeber benachteiligt. Die Beklagte hatte auch in allen Abmahnungen auf die Möglichkeit einer weiteren Abmahnung hingewiesen, womit sie sich nicht in dem Sinne binden wollte, dass im Falle einer erneuten Pflichtverletzung die Kündigung die automatische Folge sein sollte.

Das LAG muss nun unter Berücksichtigung der Fragen der betrieblichen Auswirkungen der Verspätungen, der Interessenabwägung sowie der Betriebsratsanhörung neu entscheiden.

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Konsequenzen

Der Fall spiegelt die Probleme der täglichen Personalpraxis wider. In erfrischender Klarheit erteilt das BAG der rabulistischen Ansicht des LAG eine Absage und zeigt ein bemerkenswert hohes Verständnis des betrieblichen Alltags. Entscheidend ist - unabhängig von Formulierungen im Einzelnen -, dass der Arbeitgeber zum Ausdruck bringt, er sehe in den Verhaltensweisen eine vertragsgefährdende Pflichtverletzung. Angesichts der im Arbeitsleben verbreiteten Praxis, bei als leichter empfundenen Vertragsverstößen einer Kündigung mehrere - häufig drei - Abmahnungen vorausgehen zu lassen, kann in aller Regel nicht bereits die dritte Abmahnung als "entwertet" angesehen werden.

In jedem Einzelfall ist - bei Abmahnungen als auch der Betriebsratsanhörung vor Kündigung - auf eine saubere Sachverhaltserfassung und rechtliche Wertung zu achten. Häufig stellen Arbeitgeber ein verspätet eingereichtes Attest als "unentschuldigtes Fehlen" dar. Deckt dieses Attest zeitlich alle Abwesenheitstage, an denen Arbeitspflicht bestand, ab, handelt es sich jedoch um eine reine Verletzung der Vorlagepflicht. Ebenso deutlich ist bei Arbeitsunfähigkeit zu unterscheiden zwischen Verletzung der Anzeige-/Meldepflicht und der Verletzung der Vorlagepflicht. Entgegen einer weitläufig verbreiteten Meinung bei Arbeitnehmern muss die Anzeige/Meldung spätestens bei Arbeitsbeginn erfolgen und nicht erst dann, wenn der Arzt den "gelben Schein" ausgestellt hat. Es empfiehlt sich, die Arbeitnehmer hierüber zu informieren. Bei unzuverlässigen Mitarbeitern kann und sollte der Arbeitgeber von der gesetzlich eingeräumten Möglichkeit der Verkürzung des Zeitraums für Vorlage der AU-Bescheinigung Gebrauch machen (§ 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG).

Fehlverhalten - auch geringfügiges - kann zeitnah sanktioniert werden. Auch Verspätungen gehören dazu, selbst wenn es sich "nur" um 2 - 3 Minuten handelt (vgl. LAG Frankfurt v. 15.12.1998 - 9 Sa 1942/98). Gerade bei für sich genommen geringfügigen Pflichtverletzungen befindet sich der Arbeitgeber in einem Dilemma: Kündigt er nach einem abgemahnten Vorfall beim nächsten Verstoß, muss er einerseits damit rechnen, dass eine Abmahnung möglicherweise nicht ausreicht (zu selten abgemahnt). Sind mehrere Abmahnungen erforderlich, droht andererseits die Gefahr, beim Ausspruch zu vieler Abmahnungen das Kündigungsrecht zu verlieren (zu oft abgemahnt; vgl. BAG v. 15.11.2001 - 2 AZR 609/00).

Praxistipp

Es ist zu empfehlen, die Abmahnungen eskalieren zu lassen, z.B. durch Nummerierung und dadurch, dass der Arbeitgeber die letzte Abmahnung besonders deutlich gestaltet ("Letzte Abmahnung"). Noch wirkungsvoller ist ein begleitendes eindringliches Personalgespräch unter Beteiligung des Betriebsrats, der vor einer Kündigung nach § 102 BetrVG zu informieren ist.

RA Volker Stück, HR Partner IBM Deutschland GmbH, Stuttgart

Redaktion (allg.)

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