Dynamische Altersgrenzenregelung in einer Betriebsvereinbarung

Betriebsvereinbarungen, nach denen das Arbeitsverhältnis mit der Vollendung des 65. Lebensjahrs endet, sind nach der Anhebung des Regelrentenalters regelmäßig dahingehend auszulegen, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erst mit der Vollendung des für den Bezug einer Regelaltersrente maßgeblichen Lebensalters erfolgen soll.

BAG, Urteil vom 13. Oktober 2015 – 1 AZR 853/13

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der am 1.6.1947 geborene Kläger war seit 1984 bei der beklagten Arbeitgeberin beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthielt keine Altersgrenze, sondern nahm die im Betrieb bestehende Arbeits- und Sozialordnung in ihrer jeweils gültigen Fassung in Bezug. Die als Betriebsvereinbarung abgeschlossene Arbeits- und Sozialordnung (BV ASO) enthielt folgende Regelung:

„14. Beendigung des Arbeitsverhältnisses

14.1 Allgemeine Gründe

Das Arbeitsverhältnis wird beendet: ...

c) nach Ablauf des Kalendermonats, in dem der Mitarbeiter das 65. Lebensjahr vollendet.“

Die Arbeits- und Sozialordnung wurde zwar 2008 teilweise neu gefasst, der Wortlaut von Nr. 14.1. c) blieb jedoch unverändert. Der Kläger, der nach der Übergangsregelung in § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI erst mit Vollendung des 65. Lebensjahrs und einem Monat gesetzliche Altersrente beziehen konnte, wollte auch nach der zum 30.6.2012 vorgesehenen Beendigung seines Arbeitsverhältnisses weiter seine Berufstätigkeit ausüben. Seit 1.7.2012 erhielt er eine gesetzliche sowie eine betriebliche Rente.

Der Kläger machte gerichtlich die Unwirksamkeit der in der BV ASO enthaltenen Altersgrenzenregelung geltend. Er meinte, dass die Regelung ihn in unzulässiger Weise wegen seines Alters benachteilige und verlangte Weiterbeschäftigung.

Seine Klage war in den Instanzen erfolglos.

Entscheidung

Nach dem BAG war die Befristungskontrollklage unbegründet, denn das Arbeitsverhältnis des Klägers hatte nach Nr. 14.1 Buchst. c BV ASO i. V. m. § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI mit Ablauf des 30.6.2012 geendet. Die dort normierte Altersgrenze ist wirksam. Die Betriebsparteien können in Betriebsvereinbarungen eine auf das Regelrentenalter bezogene Altersgrenze vorsehen (BAG, Beschl. v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, S. 816), die die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beachten und mit höherrangigem Recht vereinbar sein muss (§ 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Eine Befristung durch eine solche auf das Regelrentenalter bezogene Altersgrenze ist sachlich gerechtfertigt i. S. v. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG (BAG, Urt. v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, AuA 12/13,S. 712). Sie führt zwar zu einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters, die aber gem. § 10 Satz 3 Nr. 5 AGG zulässig ist (EuGH, Urt. v. 12.10.2010 – C-45/09 (Rosenbladt), AuA 9/11, S. 548).

Das BAG führte aus, dass die ausdrückliche Benennung der Vollendung des 65. Lebensjahrs in der Arbeits- und Sozialordnung nicht als feste Altersgrenze zu verstehen ist, sondern dynamisch auf die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung verweist. Dafür spricht bereits der Wortlaut. Denn die Betriebsparteien hätten in Anbetracht der seit 1916 durchgehend bestehenden Regelaltersgrenze von 65 vollendeten Lebensjahren keinen Anlass gehabt, eine andere Formulierung aufzunehmen.

Für dieses Auslegungsergebnis spricht auch das Gebot der gesetzeskonformen Auslegung, das bei Betriebsvereinbarungen ebenso wie bei Tarifverträgen Anwendung findet. Es ist davon auszugehen, dass die Betriebsparteien im Zweifel eine wirksame Regelung zur Altersgrenze treffen wollten. Da Altersgrenzen – als Befristung des Arbeitsverhältnisses – aber nur dann sachlich gerechtfertigt i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG sind, wenn der Arbeitnehmer nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf den Bezug der Regelaltersrente hat, ist in Ermangelung entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass das Arbeitsverhältnis nach dem Willen der Betriebsparteien auch erst zu diesem Zeitpunkt enden sollte. Unbeachtlich ist, dass die Betriebsparteien 2008 die Arbeits- und Sozialordnung geändert hatten, ohne die Altersgrenzenregelung anzupassen. Die für die Betriebe der Beklagten einschlägigen Tarifverträge der chemischen Industrie sehen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Altersgrenze nicht vor, so dass auch § 77 Abs. 3 BetrVG nicht entgegensteht. Nr. 14.1 Buchst. c BV ASO ist auch keiner Inhaltskontrolle zu unterziehen, denn nach § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB unterliegen Betriebsvereinbarungen keiner Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 305 ff. BGB, und zwar gleich, ob in ihnen Angelegenheiten der erzwingbaren oder – wie hier – der freiwilligen Mitbestimmung geregelt werden (BAG, Urt. v. 17.7.2012 – 1 AZR 476/11, NZA 2013, S. 338).

Die in der BV ASO normierte Altersgrenze verstößt auch nicht gegen § 41 Satz 2 SGB VI i. d. F. v. 1.1.2008. Die in dieser Vorschrift bestimmte Fiktion über den Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses betrifft nur einzelvertraglich vereinbarte Altersgrenzen vor Vollendung des Regelrentenalters (BAG, Urt. v. 1.12.1993 – 7 AZR 428/93, NZA 1994, S. 369).

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Konsequenzen

Die vorliegende Entscheidung entspricht der Rechtsprechung des BAG und des EuGH zur Wirksamkeit von kollektiv-rechtlichen Altersgrenzenregelungen. Neu und für die Praxis von Bedeutung ist die dynamische Auslegung betrieblicher Regelungen dahingehend, dass das Arbeitsverhältnis erst mit Erreichen der Regelaltersgrenze endet: Das BAG legt alte Regelungen, die auf ein Ausscheiden mit 65 abstellen, so aus, dass darunter nach der schrittweisen Anhebung der Altersgrenzen durch das Rentenversicherungs-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 30.4.2007 (BGBl. I Nr. 16, S. 554) das Erreichen der maßgeblichen gesetzlichen Regelaltersgrenze zu verstehen ist (BAG, Urt. v. 15.5.2012 – 3 AZR 11/10, AuA 11/12, S. 676, für BetrAV).

Inwiefern eine Übertragung der Auslegungsgrundsätze auf Arbeitsverträge möglich ist, bleibt abzuwarten. Eine Entscheidung des BAG dürfte vor allem vor dem Hintergrund, dass Arbeitsverträge in der Praxis generell als AGB vereinbart sind und deshalb die Unklarheitenregelung zulasten des Arbeitgebers (§ 305c Abs. 2 BGB) Anwendung findet, mit Spannung zu erwarten sein.

Praxistipp

Ohne Altersgrenzenregelung endet das Arbeitsverhältnis nicht automatisch mit Erreichen des Rentenalters. Dann bedarf es einer Beendigung durch Aufhebungsvertrag (gegen Abfindung) oder einer – schwer durchzusetzenden – Kündigung wegen Leistungsminderung.

Ist bzw. wird die Altersgrenzenregelung in einer kollektiven Regelung getroffen, ist es wichtig, dass der unbefristete Arbeitsvertrag insoweit eine Bezugnahme- und Öffnungsklausel zugunsten der kollektiven Regelungen enthält.

RA Volker Stück, Aschaffenburg

Redaktion (allg.)

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