Betriebsvereinbarung: Sonderregelung bei Rentennähe erforderlich

1. Die Betriebsparteien sind berechtigt, eine Altersgrenze für die Befristung von Arbeitsverhältnissen zu regeln, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung abstellt.

2. Die Betriebsparteien sind wegen § 75 BetrVG bei ihrer Normsetzung auch an das aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Gebot des Vertrauensschutzes gebunden.

3. Wird erstmals durch Betriebsvereinbarung eine Altersgrenze eingeführt, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung abstellt, erfordert es der Grundsatz des Vertrauensschutzes, auf die besondere Situation der bei Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung bereits rentennahen Arbeitnehmer Rücksicht zu nehmen. Dazu sind für diese Personengruppe grundsätzlich Übergangsregelungen vorzusehen.
(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 21. Februar 2017 – 1 AZR 292/15

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Problempunkt

Der am 25.10.1948 geborene Kläger war seit Mai 1969 bei der Beklagten auf der Grundlage eines mündlichen Arbeitsvertrags beschäftigt. Die Beklagte ist an die Tarifverträge für die Arbeitnehmer der kunststoffverarbeitenden Industrie gebunden.

Am 27.8.2013 trat bei der Arbeitgeberin erstmals eine „Betriebsvereinbarung Nr. 3/2013 über die Beendigung bzw. das Ruhen von Arbeitsverhältnissen gemäß den Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung“ (BV 2013) in Kraft. Nach § 2 (1) endet das Arbeitsverhältnis ohne Kündigung mit Ablauf des Monats, in dem der Arbeitnehmer die Altersgrenze für eine Regelaltersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung (derzeit §§ 35, 235 SGB VI) ohne Abschläge erreicht hat und diese auch durch einen ihm zustehenden Anspruch beziehen kann, unabhängig davon, ob ein entsprechender Rentenantrag bereits gestellt wurde.

Im September 2013 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass sein Arbeitsverhältnis aufgrund der BV 2013 mit Ablauf des 31.12.2013 enden werde. Hiergegen wandte er sich mit seiner Klage auf Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses über den 31.12.2013 hinaus. Das ArbG Detmold wies die Klage ab, das LAG Hamm gab ihr statt.

Entscheidung

Das BAG bestätigte, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der Befristung in § 2 Nr. 1 BV 2013 mit Ablauf des 31.12.2013 beendet wurde. Die rechtzeitig erhobene Befristungskontrollklage (§ 17 TzBfG) ist begründet. Zwar können Betriebsvereinbarungen eine auf das Regelrentenalter bezogene Altersgrenze bestimmen. Derartige Altersgrenzen in freiwilligen Betriebsvereinbarungen sind von der Regelungskompetenz der Betriebsparteien umfasst (BAG, Urt. v. 7.11.1989 – GS 3/85, NZA 1990, S. 816). Allerdings müssen sie die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beachten und mit höherrangigem Recht vereinbar sein (§ 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG), was gerichtlich voll überprüfbar ist (BAG, Urt. v. 13.10.2015 – 1 AZR 853/13, AuA 10/16, S. 632). Vorliegend erreichte der Kläger die maßgebende Regelaltersgrenze am 25.12.2013, so dass ihm ein Anspruch auf eine abschlagsfreie Regelaltersrente ab dem 1.1.2014 zustand.

Die Vorschrift des § 2 Nr. 1 BV 2013 verstößt aber gegen den nach § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auch für die Betriebsparteien geltenden Grundsatz des Vertrauensschutzes und ist deshalb unwirksam. Zu den beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen zu beachtenden grundrechtlich geschützten Freiheitsrechten i. S. d. § 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG gehört auch die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Arbeitnehmer. Deshalb bedürfen Befristungsregelungen in Betriebsvereinbarungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrunds i. S. v. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG (vgl. BAG, Urt. v. 8.12.2010 – 7 AZR 438/09, AuA 7/11, S. 435). Die Betriebsparteien sind aber ebenso wie der Gesetzgeber an das grundrechtlich aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Gebot des Vertrauensschutzes gebunden. Führen sie für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer erstmals eine Altersgrenze ein, gebietet es der rechtsstaatliche Vertrauensschutz, auf die Interessen der bei Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung bereits rentennahen Arbeitnehmer Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.6.2006 – 1 BvL 9/00, NZS 2007, S. 253). Die besondere Situation (keine Vorteile von Aufstiegsoptionen; Anpassung der Lebensführung/-planung an neue rechtliche Lage) erfordert für rentennahe Jahrgänge grundsätzlich Übergangsregelungen. Deren nähere Ausgestaltung unterliegt dem Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien. Die Regelung in § 2 Nr. 1 BV 2013 verstößt gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Das führt zur Unwirksamkeit der gesamten Altersgrenzenregelung des § 2 Nr. 1 BV 2013.

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Konsequenzen

Das BAG bestätigt, dass die Betriebsparteien in einer Betriebsvereinbarung eine auf das Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze abstellende Befristung des Arbeitsverhältnisses regeln können. Ohne eine derartige Regelung in einem anwendbaren Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Arbeitsvertrag besteht das Arbeitsverhältnis sonst fort bis zum Tod, Kündigung oder Aufhebungsvertrag.

Praxistipp

Künftig werden die Betriebsparteien bei neuen Betriebsvereinbarungen über Altersgrenzen wegen des Vertrauensschutzes Sonderregelungen für rentennahe Jahrgänge treffen müssen, d. h. insbesondere diese definieren und inhaltlich regeln, z. B. individuelle Verlängerungsmöglichkeiten, finanzielle Kompensationen oder Hinausschieben oder Absehen von der Einführung einer Altersgrenze für diese Personengruppe.

RA Volker Stück, Aschaffenburg

Redaktion (allg.)

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