Betriebsübergang und Gleichstellungsabrede

Nach einem Betriebsübergang braucht der Erwerber nur denjenigen Tarifvertrag anzuwenden, der für den Veräußerer zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs galt. Später abgeschlossene Tarifverträge, die für den Veräußerer gelten, binden den Betriebserwerber nicht.

EuGH, Urteil vom 9. März 2006 - C-499/04 Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 77/187/EWG

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Bild: Stefan-Yang / stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger konnte aus dem mit seiner Arbeitgeberin geschlossenen Arbeitsvertrag Entlohnung nach dem jeweils gültigen Lohntarifvertrag verlangen. Er selbst war nicht Mitglied der Gewerkschaft, die Arbeitgeberin hingegen kraft Verbandsmitgliedschaft einem Tarifvertrag unterworfen. Der Betrieb wurde an die nicht tarifgebundene Beklagte veräußert. Nach dem Betriebsübergang schlossen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband der Veräußerin einen neuen Lohntarifvertrag, der eine knapp 3%ige Lohnerhöhung vorsah. Diese verlangte der Kläger von der Beklagten und berief sich auf seinen Arbeitsvertrag und die Verweisklausel auf den jeweils gültigen Tarifvertrag. Dass die Beklagte diesem nicht unterliege, sei unschädlich, da sie gemäß § 613a BGB in die Arbeitgeberposition des Klägers eingetreten sei und deswegen auch den Arbeitsvertrag mit der Verweisklausel erfüllen müsse.

Entscheidung

Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers hin legte das LAG Düsseldorf den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor: Das LAG hatte Zweifel, ob die ständige Rechtsprechung des BAG zur so genannten Gleichstellungsabrede nicht gegen die Betriebsübergangsrichtlinie verstieße. Demnach war ein nicht tarifgebundener Arbeitnehmer, dessen Arbeitsvertrag eine dynamische Tarifverweisung enthielt, so zu behandeln wie ein tarifgebundener Mitarbeiter. Bei einem Betriebsübergang auf einen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber war die Tarifverweisung nur noch statisch anzuwenden. Nach der Richtlinie darf aber ein Arbeitnehmer durch einen Betriebsübergang nicht schlechter gestellt werden. Da der Kläger vor dem Betriebsübergang den jeweils gültigen Tariflohn verlangen konnte, danach von der Beklagten mangels Tarifbindung aber nicht, könnte ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliegen.

Der EuGH befand zugunsten des Betriebserwerbers. Als Begründung wurde angeführt: Der Betriebserwerber ist nach Art. 3 Abs. 1 RL 77/187/EWG nicht verpflichtet, Tarifverträge anzuwenden, die den Veräußerer zeitlich nach dem Betriebsübergang binden. Die Richter stellten darauf ab, dass eine vertragliche Verweisungsklausel auf einen Kollektivvertrag (z.B. Tarifvertrag) keine weitergehende Bedeutung als dieser selbst haben kann. Tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen gelten nach einem Betriebsübergang nur in dem Zustand weiter, den sie zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs hatten ("statische Weitergeltung"). Dies auch dann, wenn die Tarifrechte durch eine Verweisklausel gelten. Die Richtlinie bezweckt lediglich, die am Tag des Übergangs bestehenden Rechte und Pflichten zu wahren. Erwartungen und hypothetische Vergünstigungen, die sich aus zukünftigen Entwicklungen des Kollektivertrags ergeben, sind nicht geschützt. Auch die Interessen des Betriebserwerbers rechtfertigten die Entscheidung. Dieser kann sich auf die - auch europarechtlich geschützte - (negative) Vereinigungsfreiheit berufen. Sie gewährt das Recht, der Geltung eines Kollektivertrags durch Nichtbeitritt zum Verband bzw. Nichtabschluss eines Tarifvertrags zu entgehen. Würden für den Erwerber Tarifverträge gelten, die für den Veräußerer nach dem Betriebsübergang verpflichtend werden, wäre er in seiner negativen Vereinigungsfreiheit verletzt.

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Konsequenzen

Klar ist zurzeit nur, dass die Rechtsprechung des BAG zur Gleichstellungsabrede im Einklang mit der Betriebsübergangsrichtlinie steht. Vom EuGH gebilligt ist also die Variante, in der der tarifgebundene Arbeitgeber einem nicht gebundenen Mitarbeiter die dynamische Anwendung eines Tarifvertrags vertraglich zusichert. Kommt es zum Betriebsübergang, muss der Betriebserwerber den früheren Tarifvertrag nur noch "statisch" anwenden. Änderungen des Tarifvertrags, die nach dem Betriebsübergang erfolgen, muss er nicht umsetzen.

Doch was gilt gegenwärtig nach jüngster Rechtsprechung des BAG? Wer meint, dass mit dem EuGH-Urteil mehr Rechtsklarheit zur Frage des Schicksals von Gleichstellungsabreden bei Betriebsübergängen besteht, irrt gewaltig. Denn nach der Entscheidung des BAG vom 14.12.2005 (4 AZR 536/04) scheint eine Kehrtwende zur jahrzehntealten Rechtsprechung eingeläutet worden zu sein. Zwar wollen die Erfurter Richter an ihrer alten Rechtsprechung festhalten, wenn es um Verträge geht, die vor dem 1.1.2002 abgeschlossen wurden. Später geschlossene Arbeitsverträge sollen jedoch nunmehr strikt nach Wortlaut ausgelegt werden. Die Folge: Wird dem Mitarbeiter die Teilhabe am jeweils gültigen Tarifvertrag vertraglich zugesichert, gilt das geschriebene Wort. Demnach sind alle Arbeitgeber bei seit 2002 abgeschlossenen Arbeitsverträgen mit einer Verweisklausel zur Zahlung des "dynamischen" Tariflohns verpflichtet. Und zwar auch dann, wenn sie aus dem Arbeitgeberverband längst ausgetreten sind, bei einem Branchenwechsel sowie beim Verkauf des Betriebs an einen nicht tarifgebundenen Erwerber.

In anderen Konstellationen verweist der nicht tarifgebundene Arbeitgeber in den vorformulierten Arbeitsverträgen auf die "jeweils gültigen Tarifverträge". Was gilt in diesen Fällen? Nach dem EuGH steht das Erwerberinteresse im Vordergrund. Das BAG sieht dies anders. Die Rechtsprechung zur Gleichstellungsabrede entstand in einer Konstellation, in der der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Ist er es nicht, gelangte das BAG schon früher zur Wortlautauslegung. Der Betriebserwerber musste einen "dynamischen" Tarifvertrag gewähren, wenn der Veräußerer bei Abschluss des Arbeitsvertrags nicht tarifgebunden war.

Heißt das nun, dass sich das BAG zukünftig nach der "Vorgabe" des EuGH richten muss und seine angekündigte Änderung nicht vollziehen kann? Dafür spräche immerhin das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung.

Praxistipp

Vor dem 1.1.2002 geschlossene Verträge, bei denen der Veräußerer tarifgebunden war, sind nach derzeitiger Rechtsprechung von BAG und EuGH nach einem Betriebsübergang hinsichtlich der Tarifgeltung nur noch "statisch" anzuwenden. Eine "Tarifflucht" dürfte möglich sein: Der Arbeitgeber gründet eine rechtlich eigenständige Tochtergesellschaft und führt auf diese einen Betriebs(-teil)übergang herbei. Der ggf. missliebigen Tarifdynamik kann er so entgehen. Seit 2002 geschlossene Verträge sind nach dem EuGH "statisch" und können nach BAG "dynamisch" anzuwenden sein. Im Streitfall sollte sich der Betriebserwerber auf die Argumentation des EuGH (negative Vereinigungsfreiheit) berufen und ergänzend anführen, dass auch die deutschen Arbeitsgerichte bei auslegungsbedürftigen Vorschriften an die vom EuGH vorgegebene Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebunden sind. Wenn der Veräußerer bei Abschluss des Arbeitsvertrags nicht tarifgebunden war, sollte sich der Erwerber ebenfalls auf die Argumentation des EuGH berufen und die Bindung an das EuGH-Urteil anführen. Bei neu abzuschließenden Verträgen sollte jeder Arbeitgeber festschreiben, unter welchen Voraussetzungen in Bezug genommene Tarifverträge Anwendung finden (natürlich nur, wenn der Arbeitgeber nicht ohnehin kollektivrechtlich zur Anwendung verpflichtet ist).

RA Dr. Magnus Bergmann, Greven

Redaktion (allg.)

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