Verbandsaustritt des Arbeitgebers und Tarifbindung

Die verlängerte Tarifgebundenheit, Nachgeltung oder Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) endet, sobald eine Tarifnorm, die den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen regelt, geändert wird.

BAG, Urteil vom 7. November 2001 - 4 AZR 703/00 § 3 Abs. 3 TVG

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Bild: AlcelVision/stock.adobe.com
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Problempunkt

In dem vom BAG nunmehr entschiedenen Verfahren stritten die Parteien über die Anwendbarkeit einer vertraglichen Kündigungsfrist. Seit dem 1. Januar 1998 war die Klägerin bei der Beklagten als Pharmazieingenieurin beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit erstem Schreiben vom 29.9.1998 zum 31.10.1998 und mit weiterem Schreiben vom 30.9.1998 zum 31.10.1998, "hilfsweise zum nächstmöglichen Termin". Die Beklagte ist Mitglied eines Verbandes, der bis zum 31.12.1996 Mitglied des Arbeitgeberverbandes Deutsche Apotheken e.V. (ADA) war. Zwischen diesem und dem Bundesverband der Angestellten in Apotheken, dem die Klägerin seit dem 11.9.1990 angehörte, wurde zum 1.1.1995 der Bundesrahmentarifvertrag für Apothekenmitarbeiter (BRTV) abgeschlossen. Zum 1.9.1997 wurde in diesen mit § 19a eine sog. Härteklausel aufgenommen. Während § 21 Nr. 1 Satz 1 BRTV eine beiderseitige Kündigungsfrist von sechs Wochen zum Vierteljahresschluss vorsieht, legte § 12 des zwischen den Parteien abgeschlossenen Arbeitsvertrages eine Kündigungsfrist von vier Wochen zum Schluss eines jeden Kalendermonats fest. Die Klägerin begehrte die Zahlung der Gehälter für die Monate November und Dezember 1998 sowie einer restlichen Sondervergütung, da die Beklagte trotz des Austritts ihres Verbandes aus dem tarifvertragschließenden Verband an den BRTV gebunden sei, da dieser nicht geendet habe. Die Vorinstanzen wiesen den Antrag der Klägerin ab, auch die von ihr eingelegte Revision blieb ohne Erfolg.

 

Entscheidung

Das BAG stellte fest, dass die Klägerin wirksam zum 31.10.1998 gekündigt worden ist, so dass ihr der geltend gemachte Gehaltsanspruch sowie die von ihr begehrte Sondervergütung nicht zusteht. Entscheidend war die Frage, ob § 21 BRTV für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses anzuwenden war. Nach Ansicht des BAG ergibt sich dies zunächst nicht aus einer beiderseitigen Tarifgebundenheit i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG. Zwar trat mit Austritt des Verbandes, dem die Beklagte angehört, aus dem tarifvertragschließenden Verband ab dem 1.1.1997 nach § 3 Abs. 3 TVG eine Nachbindung ein, jedoch sei diese bereits zum Zeitpunkt der Kündigung beendet gewesen. Zur Begründung führte der Senat aus, dass beiderseitige Tarifgebundenheit zwar auch dann gegeben sei, wenn ein im Arbeitsverhältnis stehender Arbeitnehmer während des Nachbindungszeitraums in die Gewerkschaft eintrete, wobei für den Fall des Abschlusses eines Arbeitsverhältnisses während der verlängerten Tarifgebundenheit mit einem Gewerkschaftsmitglied nichts anderes gelte. Ein derartiger Fall liege hier aber nicht vor, da die nach dem Verbandsaustritt vereinbarte Härteklausel des § 19a BRTV zu einer Änderung des Tarifvertrages und damit zu einer Beendigung der verlängerten Tarifgebundenheit der Beklagten geführt habe. Eine Beendigung des Tarifvertrages i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG stehe der Fall der inhaltlichen Änderung oder Ergänzung eines Tarifvertrages gleich, soweit die Änderung den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen betreffe. Zudem hielt das BAG an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass die Tarifgebundenheit an einen dynamischen Verweisungstarifvertrag gem. § 3 TVG mit der Änderung des Bezugstarifvertrages endet. Das zur Änderung des Bezugstarifvertrages Ausgeführte gelte für die Änderung des Tarifvertrages selbst entsprechend, da hierin weder ein praktischer noch ein wertungsmäßiger Unterschied bestehe. Die eingefügte Härteklausel des § 19a BRTV beendete damit als Änderung des Tarifvertrages die Bindung der Beklagten an den BRTV. Dem stehe § 3 Abs. 3 TVG nicht entgegen, da eine Änderung des Tarifvertrages auch dann vorliege, wenn auf dessen Inhalt der ausgetretene Verband oder der ausgetretene Arbeitgeber schon deshalb keinen Einfluss mehr nehmen konnte, weil weder unmittelbar noch mittelbar eine Zugehörigkeit zu dem tarifschließenden Verband bestand. Es bedeute für den Fortbestand der Tarifgebundenheit keinen Unterschied, ob die Tarifvertragsparteien eine inhaltliche Änderung des Tarifvertrages oder dessen vorherige formelle Beendigung beschließen oder nach Beendigung des Tarifvertrages einen inhaltlich teilweise geänderten Tarifvertrag neu vereinbaren. Auch das Erfordernis der Rechtsklarheit spreche für eine Beendigung der Tarifgebundenheit, da ein anderweitig eintretendes Nebeneinander der Tarifgebundenheit nach § 3 Abs. 3 TVG für den unveränderten Teil des Tarifvertrages und der Nachwirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG für den veränderten Teil des Tarifvertrages nicht hinnehmbar sei. Ferner stellte das BAG fest, dass die Kündigungsfrist des § 21 BRTV auch nicht kraft Nachwirkung galt. Eine Nachwirkung i.S.d. § 4 Abs. 5 TVG erstrecke sich nicht auf Arbeitsverhältnisse, die erst während des Nachwirkungszeitraums begründet werden. Für die Kündigung galt daher die vertragliche Kündigungsfrist von vier Wochen, so dass der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche nicht zustanden.

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Konsequenzen

Der 4. Senat des BAG hat mit diesem Urteil nochmals zu der Frage Stellung genommen, bis zu welchem Zeitpunkt § 3 Abs. 3 TVG die Tarifgebundenheit des Arbeitgebers verlängert, wenn dieser aus dem tarifschließenden Verband austritt. Das Gesetz ist insoweit interpretationsbedürftig, da es auf die Beendigung des Tarifvertrages abstellt. Umstritten war im Schrifttum vor allem, ob eine Änderung des Tarifvertrages einer ""Beendigung"" i.S.d. § 3 Abs. 3 TVG gleichzustellen ist. Dies hat der 4. Senat bejaht und zugleich aus Gründen der Rechtsklarheit die Auffassung verworfen, nach der die Tarifgebundenheit lediglich bezüglich des geänderten Teils des Tarifvertrages endet. Allerdings gilt dies stets nur für den jeweils geänderten Tarifvertrag. Sofern sich die ""Nachbindung"" auf verschiedene Tarifverträge erstreckt, bleibt diese hinsichtlich der nicht geänderten Tarifverträge nach der vorherrschenden Ansicht im Schrifttum bestehen.

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Praxistipp

Der Austritt aus dem Arbeitgeberverband führt wegen § 3 Abs. 3 TVG nicht dazu, dass die Bindung an den Tarifvertrag mit Beendigung der Mitgliedschaft endet. Angesichts der Rechtsprechung des BAG tritt diese Wirkung erst mit einer Änderung des Tarifvertrages ein. Dies zwingt den Arbeitgeber dazu, auch nach seinem Verbandsaustritt das weitere Tarifgeschehen sorgfältig zu beobachten. Das gilt - wie der 4. Senat ausdrücklich hervorhob - auch für diejenigen Arbeitsverhältnisse, die nach der Beendigung der Verbandsmitgliedschaft begründet werden.

Univ.-Prof. Dr. Hartmut Oetker, Jena

Redaktion (allg.)

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