„Stalking“: (Außerordentliche) Kündigung ohne vorherige Abmahnung?

1. Stellt ein Arbeitnehmer einer Kollegin unter Missachtung ihres entgegenstehenden Willens im Betrieb oder im Zusammenhang mit der geschuldeten Tätigkeit beharrlich nach, ist dies „an sich“ als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung geeignet. Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, insbesondere auf das Ausmaß und die Intensität der Pflichtverletzung sowie deren Folgen – vor allem für die betroffenen Mitarbeiter –, eine etwaige Wiederholungsgefahr und den Grad des Verschuldens.

2. Ebenso hängt es von den Einzelfallumständen ab, ob eine vorherige Abmahnung erforderlich ist. Hierbei kann die Androhung „arbeitsrechtlicher Konsequenzen“ eine hinreichende Warnung vor einer Bestandsgefährdung des Arbeitsverhältnisses sein. Eine ausdrückliche Kündigungsandrohung ist dafür nicht erforderlich. Vielmehr ist es ausreichend, wenn der Arbeitnehmer erkennen kann, der Arbeitgeber werde im Wiederholungsfall möglicherweise auch mit einer Kündigung reagieren.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 19. April 2012 – 2 AZR 258/10

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Bild: Erwin-Wodicka / stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger ist verheiratet, gehbehindert und mit einem Grad von 80 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Beim beklagten Land ist er seit 1989 als Verwaltungsangestellter beschäftigt und nach § 53 BAT ordentlich nicht mehr kündbar. Im Jahre 2007 beschwerte sich eine bei seiner Behörde beschäftigte Leiharbeitnehmerin über ihn: Sie fühle sich belästigt. In dem Verfahren vor der Beschwerdestelle teilte diese ihm am 19.4.2007 schriftlich mit, der Wunsch der Mitarbeiterin, weder dienstlich noch privat Kontakt mit ihm zu haben, sei vorbehaltlos zu respektieren. Eine unmittelbare dienstliche Kontaktaufnahme habe "auf jeden Fall zur Vermeidung arbeitsrechtlicher Konsequenzen zu unterbleiben".

Im Oktober 2009 beschwerte sich eine andere Leiharbeitnehmerin über den Kläger. Sie fühle sich durch ihn in unerträglicher Art und Weise belästigt und bedrängt. So habe er von Mitte Juni bis Anfang Oktober 2009 - unstreitig! - insgesamt mehr als 120 E-Mails, MMS und SMS an sie versandt. Nach Anhörung des Personalrats und der Schwerbehindertenvertretung sowie Zustimmung des Integrationsamtes erklärte das beklagte Land die außerordentliche fristlose Kündigung, hilfsweise die außerordentliche Kündigung unter Einhaltung einer sozialen Auslauffrist. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, das LAG gab ihr statt mit der Begründung, vor Kündigungsausspruch sei eine Abmahnung erforderlich gewesen, und das Schreiben der

Beschwerdestelle vom 19.4.2007 stelle keine Abmahnung dar.

Entscheidung

Auf die Revision des Landes hat das BAG das Urteil der Vorinstanz (Hess. LAG, Urt. v. 3.11.2010 – 2 Sa 979/10) aufgehoben und die Sache an das LAG zurückverwiesen. Das BAG folgte dem LAG zunächst in der Feststellung, dass das Schreiben der Beschwerdestelle vom 19.4.2007 keine Abmahnung darstellt. Es fehlt nämlich darin die Rüge vorherigen Fehlverhaltens sowie die eindeutige Bewertung, dass es sich dabei um eine Pflichtverletzung handelt (Rügefunktion). Der 2. Senat hatte aber erhebliche Zweifel, ob eine Abmahnung überhaupt erforderlich war. Außerdem ging aus dem Urteil des LAG nicht hervor, welchen Kündigungssachverhalt (Verhalten des Klägers 2007 oder Verhalten 2009) es seiner Würdigung zugrunde gelegt hat.

Auszugehen ist davon, dass es in Fällen wie dem vorliegenden nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung (§ 238 StGB) ankommt, sondern auf die mit dem Verhalten verbundene Störung des Betriebsfriedens. Verletzt ist neben dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zugleich – und zwar in erheblichem Maße – die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers (§ 241 Abs. 2 BGB), der die Integritätsinteressen seiner Mitarbeiter zu schützen hat. Bei der Frage, ob im Fall eine Abmahnung erforderlich war, kann es von Bedeutung sein, dass gegen den Kläger bereits ein Beschwerdeverfahren gemäß § 13 AGG durchgeführt worden ist. Das beklagte Land hat ferner geltend gemacht, der Kläger habe im zweiten Fall der Leiharbeitnehmerin damit gedroht, er könne dafür sorgen, dass sie keine Anstellung beim Land bekommt, und er werde ihren Ehemann, der über keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügte, bei der Polizei

und der Ausländerbehörde anzeigen. Bei der Mitarbeiterin habe dies massive Angstzustände verursacht.

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Konsequenzen

Bei der kündigungsrechtlichen Beurteilung von Fällen wie dem vorliegenden ist es wichtig, dass der „Stalker“ nicht nur Rechte des Betroffenen verletzt, sondern zugleich – massiv! – arbeitsvertragliche Pflichten gegenüber dem Arbeitgeber. Es handelt sich also keineswegs um eine „Privatangelegenheit“ des „Stalkers“. Das sollte das Unternehmen – jedenfalls aus gegebenem Anlass – gegenüber der Belegschaft klarstellen.

Die Frage, wie eine Abmahnung formuliert werden muss, um ausreichende kündigungsrechtliche Warnfunktion zu entfalten, war bisher höchstrichterlich zumindest nicht ganz eindeutig entschieden. Im Schrifttum sind die Ansichten durchaus geteilt. Erörtert werden im Wesentlichen folgende Alternativen:

> ausdrückliche Androhung der Kündigung,

> ausdrückliche Androhung kündigungsrechtlicher

Konsequenzen,

> Hinweis auf Gefährdung von Inhalt und/oder Bestand des Arbeitsverhältnisses,

> Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen bzw. Schritte.

Mit all dem setzt sich das Gericht in dem Urteil (Rdnrn. 20 – 23) ausführlich auseinander. Es kommt zu dem Schluss, dass die Androhung „arbeitsrechtlicher Konsequenzen“ ausreichend sein kann, und bejaht das im Fall für das Schreiben der Beschwerdestelle vom 19.4.2007. Der Weisheit letzter Schluss ist das natürlich auch nicht.

 

Praxistipp

Bei der Suche nach der „richtigen“ Formulierung wird der Arbeitgeber stets den Empfängerhorizont berücksichtigen müssen. Und da ist alleine die ausdrückliche Erwähnung der (möglichen) Kündigung im Wiederholungsfall eindeutig. Vorbehalte in der Praxis vor dem Gebrauch des harten Wortes „Kündigung“ sind verständlich, wenn die Abmahnung nicht bewusste Kündigungsvorbereitung sein soll, sondern ein „Warnschuss“ an den Mitarbeiter, den man aber möglichst halten will. Dann flüchten die Verantwortlichen gerne in „unverbindlichere“ Formulierungen, um nicht durch den Gebrauch des harten Wortes den Betreffenden zu verärgern oder zu verunsichern. Diesem Risiko lässt sich aber durch entsprechende Formulierung der Abmahnung begegnen. Auch sollte aus ihr hervorgehen, ob der nächste einschlägige Vertragsverstoß unweigerlich(!) zur Kündigung führen wird.

Wer diesen Überlegungen folgen will, kann den Schluss der Abmahnung etwa wie folgt formulieren:

Muster – Abmahnung

… Im Wiederholungsfall müssten wir die Kündigung Ihres Arbeitsverhältnisses in Betracht ziehen. Im Hinblick auf die bisher einwandfreie Zusammenarbeit würden wir dies jedoch bedauern

Voraussetzung für die Verwendung dieses Textes ist selbstverständlich, dass er zutrifft. Dem Mitarbeiter soll keinesfalls „Honig ums Maul geschmiert“ werden.

 

Dr. Wolf Hunold, Unternehmensberater, Neuss

Redaktion (allg.)

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