Schadensersatz wegen unterbliebener Erhöhung der Wochenarbeitszeit

Eine Diskriminierung eines behinderten Arbeitnehmers wegen unterbliebener Erhöhung der Wochenarbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitszeit seiner Kollegen kann nur dann vermutet werden, wenn Indizien vorliegen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass die Behinderung des Betroffenen ursächlich für die Benachteiligung war.
(Leitsatz des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 26. Januar 2017 – 8 AZR 736/15

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Bild: Kzenon/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger ist Kurier bei der Beklagten. Er ist mit einem GdB von 50 als schwerbehinderter Mensch anerkannt. Die Beklagte betreibt einen Express- Versand und Transport-Service. Die wöchentliche Arbeitszeit des Angestellten beträgt 27,5 Stunden. Die Beklagte verteilte ein Stundenvolumen von 66,5 Stunden unbefristet an die Belegschaft. Insgesamt wurden die Stunden an 14 teilzeitbeschäftigte Kuriere gegeben. Mit diesen sind sodann entsprechende Änderungsverträge abgeschlossen worden. Der Kläger hatte zwar zuvor mehrfach um eine Erhöhung seiner Wochenstundenzahl nachgesucht, wurde jedoch nicht berücksichtigt. Ein Kollege des Klägers, der in derselben Station wie er eingesetzt war, hat gleichfalls keine Stundenerhöhung erhalten. Die weiteren Teilzeitmitarbeiter mit einem Wunsch nach einer Stundenerhöhung wurden dagegen berücksichtigt. Der Kläger macht eine Erhöhung seiner wöchentlichen Arbeitszeit geltend. Zusätzlich begehrt er hilfsweise einen Schadensersatzanspruch nach § 15 Abs. 1 AGG in Höhe der ihm entgangenen Vergütung, da die Beklagte ihn bei der Vergabe der Stundenerhöhungen wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt habe.

Das Hessische LAG hatte dem Kläger Schadensersatz in Höhe des ihm entgangenen Verdienstes zugesprochen.

Entscheidung

Das BAG hat das Berufungsurteil aufgehoben. Die Sache wurde zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Vorinstanz hat die Beweislastregel des § 22 AGG verkannt. Sie ist davon ausgegangen, dass von der Beklagten nicht widerlegte Indizien vorgelegen haben, die eine Benachteiligung des Klägers wegen seiner Schwerbehinderung vermuten lassen. Der darin ausgedrückte Maßstab für das Erbringen des Indizienbeweises ist rechtsfehlerhaft. Die Vermutung einer Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes besteht nur, wenn Indizien vorliegen, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass ein in § 1 AGG genannter Grund ursächlich für die Benachteiligung war. Die Möglichkeit einer Ursächlichkeit reicht dafür nicht aus.

Da die durch das Hessische LAG bisher getroffenen Feststellungen für eine Entscheidung in der Sache nicht ausreichend waren, konnte der 8. Senat den Rechtsstreit nicht abschließend entscheiden.

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Konsequenzen

Die Beweisführung für eine Benachteiligung wegen eines Merkmals nach § 1 AGG wird zwar durch § 22 AGG erleichtert, ist praktisch aber gleichwohl noch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Das wird durch die vorliegende Entscheidung nochmals deutlich. Nach der Beweiserleichterung des § 22 AGG muss der Anspruchsteller zwar nur noch das Vorliegen von Indizien beweisen. Für diese verbleibt es aber bei der Erforderlichkeit des Vollbeweises. Erst hiernach hat der Arbeitgeber den Entlastungsbeweis zu führen. Nach dem Wortlaut des § 22 AGG müssen die Indizien eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Hieraus folgen erhebliche Auslegungsspielräume für die Arbeitsgerichtsbarkeit. Diese konkretisiert das BAG in ständiger Rechtsprechung dahingehend, dass die Indizien den Rückschluss auf eine Benachteiligung mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit zulassen müssen (vgl. etwa BAG, Urt. v. 7.7.2011 – 2 AZR 355/10, AuA 9/12, S. 554).

Die vorliegende Entscheidung bestätigt diese Rechtsprechungslinie. Es ist Sache der Tatsachengerichte, ihre Urteilsfindung anhand dieses Maßstabs zu begründen. Dafür sind die Umstände des Einzelfalls unter Würdigung der bewiesenen und unstreitigen Tatsachen zu betrachten. Danach müssen die Indizien den logischen Rückschluss auf eine Benachteiligung nach sich ziehen. Der Arbeitnehmer muss folglich darlegen und beweisen, dass hinreichende Indizien vorliegen, die mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf eine Benachteiligung hindeuten. Hat ein Arbeitgeber keine dahingehenden Anknüpfungstatsachen gesetzt, dürfte dies in der Praxis kaum möglich sein. Wie schwierig die Beweisführung selbst für die erforderlichen Indizien ist, zeigt sich etwa an der inzwischen ausdifferenzierten Rechtsprechung zu Benachteiligungen wegen einer Behinderung im Rahmen von Einstellungsverfahren Einstellungsverfahren. Dort gilt hinsichtlich des Ausbleibens einer Einladung des schwerbehinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch das Folgende: Bei öffentlichen Arbeitgebern ist eine Benachteiligung wegen der gesetzlichen Verpflichtung zur Einladung nach § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB IX indiziert (BAG, Urt. v. 11.8.2016 – 8 AZR 375/15). Bei privaten Unternehmen gilt diese Indizwirkung zwar nicht, kann sich jedoch aus der entgegen § 81 Abs. 1 SGB IX nicht erfolgten Einschaltung der Bundesagentur für Arbeit ergeben (BAG, Urt. v. 17.8.2010 – 9 AZR 839/08). Für alle Arbeitgeber gilt: Das Fehlen einer Begründung im Ablehnungsschreiben indiziert eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung für sich genommen nicht (BAG, Urt. v. 21.2.2013 – 8 AZR 180/12).

Praxistipp

Arbeitnehmer haben bereits bei der Erbringung des Beweises für Indizien eine hohe Hürde zu nehmen. Arbeitgebersollten selbstredend jedoch gleichwohl jeden Anschein von Diskriminierungen von vornherein vermeiden.

RA und FA für Arbeitsrecht Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen, Direktor KompetenzCentrum für Wirtschaftsrecht, Hamburg

Redaktion (allg.)

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