Nachwirkung gekündigter Betriebsvereinbarung
Problempunkt
Die Mitarbeiterin ist seit 1.10.1994 in einem Senioren- und Pflegezentrum in Nordrhein-Westfalen beschäftigt, das die nicht tarifgebundene Beklagte betreibt. Sie erhielt seit Beginn des Arbeitsverhältnisses ein Weihnachtsgeld in Höhe eines Monatsgehalts. Rechtsgrundlage hierfür war eine Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1995 (BV 1995). Diese kündigte die Beklagte fristgerecht zum 31.12.2001. Als die anschließenden Verhandlungen mit der Gewerkschaft ver.di über einen Haustarifvertrag im Herbst 2005 scheiterten, stellte die Beklagte die Weihnachtsgeldzahlungen ein.
Die Klägerin verlangte die Zahlung des Weihnachtsgelds für das Jahr 2005. Arbeitsgericht und LAG wiesen die Klage ab.
Entscheidung
Auf die Revision der Klägerin hob das BAG die Entscheidungen auf und gab der Klage statt. Die Klägerin hat gegen die Beklagte weiterhin einen Anspruch auf Zahlung von Weihnachtsgeld aus der BV 1995. Diese regelt zwar Arbeitsentgelte und sonstige materielle Arbeitsbedingungen. Gleichwohl stand die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) nicht entgegen. Es gab nämlich keinen Tarifvertrag, in dessen räumlichen, betrieblichen und fachlichen Geltungsbereich der Betrieb der Beklagten fiel. Die Arbeitsentgelte in privaten Alten- und Pflegeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen werden auch nicht üblicherweise tarifvertraglich geregelt.
Die Beklagte hat die BV 1995 zwar wirksam gekündigt, jedoch wirkt sie gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG nach. Die Vorschrift bestimmt, dass Betriebsvereinbarungen in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, nach ihrem Ablauf weitergelten, bis eine andere Abmachung sie ersetzt. Die Nachwirkung betrifft Fragen, die der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats unterfallen. Hier änderte die Beklagte die Entlohnungsgrundsätze im Betrieb, indem sie das Weihnachtsgeld strich. Folglich ergibt sich ein solches Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG.
Die Vorschrift findet bei tarifgebundenen Arbeitgebern wegen des Tarifvorrangs jedoch nur hinsichtlich des freiwillig geleisteten übertariflichen Teils der Vergütung Anwendung. Dagegen leistet ein nicht tarifgebundenes Unternehmen sämtliche Vergütungsbestandteile freiwillig, solange es die Arbeit überhaupt vergütet. Es kann daher jedes Mal, wenn es einen Vergütungsbestandteil streicht, erhöht oder vermindert und dadurch das Gesamtgefüge verändert, verpflichtet sein, den Betriebsrat zu beteiligen. Dies gilt auch, wenn der Arbeitgeber Teile der Vergütung den Arbeitnehmern individualvertraglich schuldet und diese nach dem Günstigkeitsprinzip zu erbringen hat.
Im vorliegenden Fall senkte die Beklagte mit der Streichung des Weihnachtsgelds das Vergütungsniveau nicht gleichmäßig ab. Dies ergibt sich schon daraus, dass sie Teile der Gesamtvergütung nicht mehr als zusätzliche Einmalzahlung zu einem bestimmten Datum leistete. Damit änderte sie gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG die Entlohnungsgrundsätze, so dass eine zwingende Angelegenheit der Mitbestimmung i. S. v. § 77 Abs. 6 BetrVG vorlag.
Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)
Konsequenzen
Betriebsvereinbarungen über finanzielle Leistungen sind regelmäßig teilmitbestimmt:
? Den Dotierungsrahmen (Ob, Höhe, Zweck), kann der Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgeben.
? Bei der Ausgestaltung, also dem Verteilungsund Leistungsplan nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG (Wie), muss der Betriebsrat zustimmen.
Nach Kündigung ist wegen der Nachwirkung teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen grundsätzlich zu unterscheiden:
? Beseitigt das Unternehmen die gesamten freiwilligen Leistungen ersatzlos und vollständig, gibt es kein Mitbestimmungsrecht und keine Nachwirkung (BAG v. 17.1.1995 1 ABR 29/94).
? Reduziert der Arbeitgeber nur das bisher zur Verfügung gestellte Finanzvolumen, ohne den Verteilungsplan zu ändern, ist die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nicht betroffen. Das Unternehmen kann die absolute Höhe der Leistungen mitbestimmungs-/nachwirkungsfrei festlegen. Hinsichtlich der gleich bleibenden Verteilungsgrundsätze wirkt die gekündigte Betriebsvereinbarung aber nach.
? Will der Arbeitgeber das Volumen der insge - samt zur Verfügung gestellten Mittel verringern und zugleich den Verteilungsplan ändern, wirkt die Betriebsvereinbarung nach (BAG, Urt. v. 18.11.2003 1 AZR 604/02). Kann er sich nicht mit dem Betriebsrat einigen, muss er die Einigungsstelle anrufen. Diese hat ihrem Spruch über den neuen Leistungsplan das Finanzvolumen, das das Unternehmen noch zur Verfügung stellt, als mitbestimmungsfreie Vorgabe zugrunde zu legen.
Praxistipp
Vorsichtige Arbeitgeber können zeitlich befristete Regelungen mit ihrem Betriebsrat über freiwillige Leistungen (z. B. jährlich) treffen (Fitting, § 77 BetrVG Rdnr. 142) und darin eine Nachwirkung über die Laufzeit hinaus ausdrücklich ausschließen (Fitting, § 77 BetrVG Rdnr. 180). So gelingt es, das Volumen der jeweiligen Geschäftslage anzupassen und die schwierigen Nachwirkungsfragen zu „entschärfen“. Die Gefahr, durch die aktuelle Rechtsprechung sonst ungewollt gebunden zu werden, ist nicht zu vernachlässigen.
RA Volker Stück, Aschaffenburg
Redaktion (allg.)
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