Problempunkt
Die Klägerin arbeitet seit dem 1. April 1986 als Finanzbuchhalterin für die Beklagte. Sie ist teilzeitbeschäftigt mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 25 Stunden und bezog im Jahr 2000 ein tarifliches Entgelt von monatlich 4 197,14 DM brutto. Auf das Arbeitsverhältnis finden wegen der beidseitigen Verbandszugehörigkeit die tariflichen Bestimmungen für die Angestellten der Druckindustrie in Nordrhein - Westfalen (MTV Angestellte NRW) Anwendung. Die jährlichen Sonderleistungen waren bislang aufgrund der Bestimmung des § 9 des MTV Angestellte NRW in der Fassung vom 27. Februar 1997 gezahlt worden. Voraussetzung für den vollen Anspruch war danach ein ungekündigtes Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis, das seit dem 4. Januar bis einschließlich 31. Dezember des laufenden Fälligkeitsjahres bestand. Im Jahr 2000 fehlte die Klägerin krankheitsbedingt zunächst vom 25. Februar bis 7. März; seit dem 7. Juli fehlte sie auf Dauer. Das Arbeitsverhältnis bestand aber ungekündigt fort. Im November 2000 nahm die Beklagte bei der Klägerin wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit einen Gehaltsabzug in Höhe von 526,84 DM vor. Diesen Abzug begründete sie damit, dass es in § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW heißt: "Bei Bestimmungen dieses Vertrages, die dem MTV gewerblicher Arbeitnehmer sinngemäß entsprechen bzw. gleich lauten, finden die Durchführungsbestimmungen des MTV gewerbliche Arbeitnehmer Anwendung." Für die gewerblichen Arbeitnehmer besteht eine § 9 MTV Angestellte NRW nahezu gleichlautende Regelung der tariflichen Jahresleistung in § 9 MTV gewAN. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Durchführungsbestimmungen, aber es existieren Protokollnotizen, in denen es heißt: "Eine anteilige Kürzung der tariflichen Jahresleistung erfolgt je Tag der Abwesenheit bei (...) krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechungen, soweit sie insgesamt die Dauer von vier Monaten im Kalenderjahr überschreitet (...)." Die Klägerin wendet sich gegen die Kürzung der tariflichen Jahresleistung mit dem Argument, in § 20 Abs. 5 MTV sei nur auf die Durchführungsbestimmungen, nicht aber auf die Protokollnotizen verwiesen.
Entscheidung
Nachdem die Klägerin beim LAG in zweiter Instanz mit ihrer Argumentation unterlag, hob das BAG das Urteil auf und stellte die erstinstanzliche Entscheidung des ArbG wieder her. Nach Auffassung des Senats erfüllt die Klägerin die tatbestandlichen Voraussetzungen der vollen Jahresleistung in § 9 Abs. 2 MTV Angestellte NRW, da sie in dem gesamten Bezugsjahr 2000 in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis gestanden hat. § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW kann unter Bezugnahme auf die genannten Protokollnotizen zu § 9 MTV gewAN zu keiner Kürzung dieses Anspruchs aufgrund krankheitsbedingter Abwesenheit führen. Das BAG hat die genannten Normen ausgelegt und kam zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Fall einerseits Protokollnotizen, andererseits Durchführungsbestimmungen vereinbart worden waren. Die eindeutige Bezugnahme auf Durchführungsbestimmungen kann daher nicht zu einer solchen auf Protokollnotizen führen. Ein lediglich redaktionelles Versehen ist im Ergebnis auch nicht anzunehmen, wenn in § 20 Abs. 5 lediglich die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN in Bezug genommen wurden.
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Konsequenzen
Bei der Auslegung von Tarifbestimmungen und in Bezug genommenen Durchführungsbestimmungen und Protokollnotizen sind folgende Grundsätze, die das BAG in der Entscheidung nochmals deutlich hervorgehoben hat, zu beachten: Zunächst ist vom jeweiligen Wortlaut der Tarifnormen auszugehen. Zu erforschen ist dabei - wie bei der Auslegung von Gesetzen - der wirkliche Wille der Parteien sowie der tarifliche Gesamtzusammenhang. Bei verbleibenden Zweifeln können weitere Kriterien wie etwa die Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte zu Rate gezogen werden, ohne dass hierbei eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten wäre. Verbleiben dann noch Zweifel, ist die Auslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG, Urt. v. 20.3.2002 - 10 AZR 518/01). Dem widerspricht nicht, dass unterschiedliche Tarifparteien zu denselben Fragestellungen differenzierte Lösungen formuliert haben; auch dann nicht, wenn es um Entgeltfragen (bei Arbeitnehmern desselben Gewerbes) geht.
Praxistipp
Bei Kürzung von Leistungen der Arbeitnehmer - wie hier der jährlichen Sonderleistung - sollte der Arbeitgeber grundsätzlich die Rechtsgrundlage hierfür genau prüfen. Spielen Tarifnormen eine Rolle und sind sie auslegungsbedürftig, sei es, weil sie unbestimmt oder uneindeutig formuliert sind; sei es, weil sie Bezug nehmen auf andere Tarifverträge oder vergleichbare Regelungen anderer Arbeitnehmergruppen, sind die vom BAG nunmehr wiederholt aufgestellten Grundsätze zur Auslegung von Tarifnormen zu beachten, die den Grundsätzen zur Auslegung von Gesetzen folgen. Verbleiben letzte Zweifel, ist zu fragen, ob die ermittelte Auslegung zu sachgerechten Ergebnissen führt. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn Entgeltfragen aufgrund unterschiedlicher tariflicher Regelungen einer differenzierten Behandlung zugeführt werden, wie hier bei der Frage der Kürzung des Anspruchs auf eine jährliche Sonderleistung bei krankheitsbedingter Abwesenheit des Arbeitnehmers im Bezugsjahr.
RAin Katrin Borck, Bräunlingen
Redaktion (allg.)
· Artikel im Heft ·
Die Parteien stritten um die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung, wobei die Arbeitgeberin aufgrund der tariflichen Regelung
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Im vorliegenden Fall stritten die Parteien über die (vermeintliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch
Tarifliche Besonderheiten
§ 1a BetrAVG ist tarifdispositiv, d. h. die Tarifpartner können vom Gesetz abweichende Regelungen zum Arbeitgeberzuschuss
Immer wieder scheitern krankheitsbedingte Kündigen daran, dass der Arbeitgeber zuvor kein sog. BEM-Verfahren (vgl. hierzu ausführlich u. a