Kündigung wegen Erwerbstätigkeit während Arbeitsunfähigkeit
Problempunkt
Der Arbeitnehmer war seit dem Jahr 2000 bei einem Pharmaunternehmen als Kraftfahrer beschäftigt. Seit Anfang März 2004 hatte er sich wegen der Folgen eines Sturzes arbeitsunfähig gemeldet. Ende Mai 2004 erfuhr der Arbeitgeber von einem Detektiv, den er mit Nachforschungen beauftragt hatte, dass der Mitarbeiter in der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit ein Café betrieben und dort am 28.4.2008 mindestens eine Stunde Gäste bedient, den Geschirrspüler geleert und ähnliche Arbeiten verrichtet hatte.
Das Unternehmen wollte das Arbeitsverhältnis mit dem Mitarbeiter daraufhin fristlos beenden. Es hörte den Betriebsrat mit Schreiben vom 1.6.2004 zur beabsichtigten Kündigung an. Aus einer Äußerung eines Betriebsratsmitglieds noch am selben Tag folgerte es, dass das Gremium keine Bedenken gegen die Kündigung habe, und kündigte dem Mitarbeiter am 2.6.2004. Auf der Betriebsratssitzung vom 4.6.2004 widersprach die Arbeitnehmervertretung der Kündigung. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber mit Schreiben vom 7.6.2004 erneut fristlos, hilfsweise fristgerecht.
Mit seiner Klage, die sich gegen die beiden Kündigungen richtete, bestritt der Kläger, während seiner Arbeitsunfähigkeit anderweitig gearbeitet zu haben. Außerdem seien die Kündigungen wegen nicht ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörungen unwirksam.
Arbeitsgericht und LAG gaben der Klage überwiegend statt. Auf die Revision der Beklagten hob das BAG die Vorentscheidung auf, soweit sie die Kündigung vom 7.6.2004 betraf, und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
Entscheidung
Entgegen der Auffassung von Arbeitsgericht und LAG ist lediglich die Kündigung vom 2.6.2004 wegen nicht ordnungsgemäßer Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz unwirksam. Dies folgt daraus, dass die Beklagte die Kündigung ausgesprochen hatte, bevor die gesetzliche Frist zur Stellungnahme des Betriebsrats abgelaufen war oder dieser sich abschließend als Gremium geäußert hatte.
Dagegen hat die Beklagte den Betriebsrat zur Kündigung vom 7.6.2004 ordnungsgemäß angehört. Dem steht nicht entgegen, dass die Anhörung zu dieser Kündigung auf der Grundlage desselben Schreibens wie die Anhörung zur vorausgegangenen Kündigung vom 2.6.2004 erfolgte. Das war unschädlich, weil der Betriebsrat bei seiner Beschlussfassung am 4.6.2004 wusste, dass er zu einer noch auszusprechenden Kündigung angehört wurde und seine Rechte ungeschmälert wahrnehmen konnte.
Die Kündigung vom 7.6.2004 kann auch in der Sache gerechtfertigt sein. Geht ein Arbeitnehmer während einer Krankschreibung einer anderweitigen Erwerbstätigkeit nach, ist dies u. U. ein Hinweis darauf, dass er in Wirklichkeit gar nicht arbeitsunfähig ist. Außerdem verzögert er hierdurch möglicherweise pflichtwidrig seine Heilung. In beiden Fällen kommt eine außerordentliche Kündigung in Betracht. Im Streitfall sind zu dem Vorwurf der anderweitigen Erwerbstätigkeit während der Krankschreibung allerdings noch keine ausreichenden Feststellungen getroffen worden, so dass das BAG den Rechtsstreit an das LAG zurückverwiesen hat.
Ein Überblick über die drei Teilbereiche des „Kollektiven Arbeitsrechts“: Betriebsverfassungsrecht (BetrVG, SprAuG, EBRG), Unternehmensmitbestimmungsrecht (DrittelbG, MitbestG, Montan-MitbestG), Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht (TVG, Artikel 9 III GG)
Konsequenzen
Die Entscheidung verdeutlicht die Tücken der Betriebsratsanhörung: Der Arbeitgeber darf nur kündigen, wenn
- die Frist zur Stellungnahme des Betriebsrats abgelaufen ist (Da die Frist unterschiedlich lang ist (3 Tage/1 Woche) und der Arbeitgeber die Zwei-Wochen Ausschlussfrist des § 626 BGB zu beachten hat, muss er ggf. zunächst fristlos und dann später separat ordentlich kündigen!),
- die Arbeitnehmervertretung den Kündigungen vor Ablauf der Anhörungsfrist ausdrücklich zustimmt oder
- das Gremium eine eindeutige Stellungnahme abgibt, dass es die Kündigung(en) abschließend beraten hat, das Verfahren als abgeschlossen betrachtet und keine weitere Stellungnahme erfolgt.
Äußert sich der Betriebsrat, der durch den Vorsitzenden bzw. dessen Stellvertreter vertreten wird, vor Ablauf der Anhörungsfrist nur zur fristlosen Kündigung (Zustimmung; abschließende Beratung), muss der Arbeitgeber mit dem Ausspruch der ordentlichen Kündigung weiter abwarten! Auf mündliche Äußerungen eines sonstigen Betriebsratsmitglieds sollte der Arbeitgeber nicht bauen.
Praxistipp
Arbeitgebern ist zu empfehlen, in derartigen Fallkonstellationen stets neben einer Tat- auch eine Verdachtskündigung – nachdem der Arbeitnehmer zu den Vorwürfen angehört wurde - auszusprechen. Der Betriebsrat ist dann zu vier verschiedenen Kündigungsarten anzuhören: - fristlose Tatkündigung, - hilfsweise fristlose Verdachtskündigung, - hilfsweise ordentliche Tatkündigung sowie - hilfsweise ordentliche Verdachtskündigung.
RA Volker Stück, Leiter Personal ABB AG, Hanau
Redaktion (allg.)
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