Keine Strafbarkeit bei Entsendebescheinigung

Ein deutscher Arbeitgeber, der durch Täuschung wirksame Entsendebescheinigungen eines anderen EU-Mitgliedsstaats für ausländische Arbeitnehmer erlangt hat und deshalb für diese keine Sozialversicherungsbeiträge abführt, macht sich weder wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen noch wegen Betrugs nach deutschem Recht strafbar. Dies gilt selbst dann, wenn das Arbeitsverhältnis in dem anderen Mitgliedsstaat nur zum Schein besteht und die inhaltlichen Voraussetzungen einer zulässigen Entsendung ersichtlich nicht erfüllt sind.

(Leitsatz des Bearbeiters)

BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06 §§ 5 Abs. 1 SGB IV; 263, 266a Abs. 1, 271 Abs. 1 und 2 StGB

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Bild: Nirat.pix / stock.adobe.com
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Problempunkt

Arbeitgeber müssen für ihre in Deutschland tätigen Arbeitnehmer, die im Rahmen eines außerhalb Deutschlands bestehenden Beschäftigungsverhältnisses hierher entsandt sind, keine Sozialabgaben leisten, wenn die Entsendung infolge der Art der Beschäftigung oder vertraglich im Voraus zeitlich ausdrücklich begrenzt ist (§ 5 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch [SGB IV], sog. Einstrahlung). Die Mitarbeiter sind nur in dem Entsendestaat versicherungspflichtig. Folglich können sich die Arbeitgeber nicht gemäß § 266a Abs. 1 StGB wegen Nichtabführung des Arbeitgeberanteils der deutschen Gesamtsozialversicherungsbeiträge strafbar machen. Innerhalb der EU wird die Entsendung - und damit die Freistellung von der Versicherungspflicht im Aufnahmestaat - durch die zuständige Behörde des Entsendestaats mit dem einheitlichen Formular E 101 bescheinigt. Der BGH hatte nun zu entscheiden, ob die Versicherungsfreiheit in Deutschland - und damit die Straflosigkeit bei Nichtabführung der deutschen Versicherungsbeiträge - auch in solchen Fällen besteht, in denen die Voraussetzungen für die Erteilung von E 101-Bescheinigungen offensichtlich nicht vorlagen, die zuständige Behörde des Entsendestaats diese aber trotzdem aufgrund täuschender Angaben der Antragssteller ausgestellt hatte. Im vorliegenden Fall waren portugiesische Arbeitnehmer nur zum Schein bei dem entsendenden Unternehmen mit Sitz in Portugal angestellt. Tatsächlich wurden sie jedoch dauerhaft und ausschließlich in Deutschland für eine deutsche GmbH tätig. Da dies mit Kenntnis des Geschäftsführers geschah, verurteilte ihn das Landgericht München wegen Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a StGB). Gegen diese Entscheidung legte er Revision zum BGH ein.

Entscheidung

Der BGH entschied, dass sich ein Arbeitgeber auch dann nicht wegen Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen gemäß § 266a StGB strafbar macht, wenn die Bescheinigungen E 101 erkennbar aufgrund unzutreffender Angaben erteilt wurden, solange sie durch die zuständige Behörde des Entsendestaats nicht aufgehoben wurden. Nur das Vorenthalten von sozialrechtlich bestehenden, fälligen Ansprüchen ist gemäß § 266a StGB strafbar (BGH, Urt. v. 28.5.2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, S. 318). Das Gericht hatte also die Frage zu klären, ob die materiellrechtlich zu Unrecht ausgestellten E 101-Bescheinigungen eine strikte Bindungswirkung für deutsche Behörden und (Straf-)Gerichte dergestalt entfalten, dass allein ihre Existenz die Freistellung von der deutschen Versicherungspflicht bewirkt, oder ob sie nur eine widerlegliche Vermutung für einen versicherungsfreien Entsendevorgang begründen und die tatsächliche Rechtslage entscheidend ist. Im Anschluss an den EuGH, der bereits in mehreren Entscheidungen (vgl. Urt. v. 10.2.2000 - C-202/97, Slg. 2000, I-883) festgestellt hat, dass alle Behörden und Gerichte des Aufnahmestaats an die in dem Formular E 101 zum Ausdruck kommende Entscheidung der zuständigen Behörde des Entsendestaats gebunden sind, hat auch der BGH eine strikte Bindung bejaht. Aufgrund des Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und des in Art. 10 EG verankerten Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten darf sich ein Mitgliedsstaat nicht über die Entscheidung der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedsstaats stellen, indem er die Voraussetzungen für zuständigkeitshalber durch diese erteilte E 101-Bescheinigungen nachträglich überprüft. Der BGH lehnte deshalb eine Prüfungskompetenz deutscher Behörden und Gerichte hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen einer Entsendebescheinigung eines anderen Mitgliedsstaats ab. Solange die Bescheinigungen im Entsendestaat Bestand haben, müssen sie deutscher Amtstätigkeit zugrunde gelegt werden, auch in Fällen einer missbräuchlichen Erlangung (etwa durch Täuschung). Mangels einer Sozialversicherungspflicht in Deutschland verneinte der BGH daher eine Strafbarkeit gemäß § 266a StGB. Eine Verurteilung wegen Betrugs (§ 263 StGB) durch Erlangung der Entsendebescheinigungen hat der BGH nicht geprüft. Infolge der europarechtlichen Bindungswirkung sind deutsche Gerichte nicht befugt, mögliche Täuschungen gegenüber der zuständigen Behörde des Entsendestaats durch sachlich unrichtige Angaben über die tatsächlichen Voraussetzungen des Entsendetatbestands (vgl. § 5 Abs. 1 SGB IV) als solche zu beurteilen (vgl. Schulz, NJW 2007, S. 233, 236).

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Konsequenzen

Legen ausländische Arbeitnehmer deutschen Unternehmen, für die sie (mittelbar bzw. faktisch) arbeiten, eine selbstständig erlangte E 101-Bescheinigung eines EU-Mitgliedsstaats vor, müssen diese sie nicht auf ihre Rechtmäßigkeit oder Schlüssigkeit überprüfen. Wirksame Bescheinigungen befreien - solange sie nicht aufgehoben wurden - konstitutiv von der Sozialversicherungspflicht. Dies gilt selbst dann, wenn der faktische deutsche Arbeitgeber sogleich oder nachträglich erkennt, dass das Formular möglicherweise zu Unrecht ausgestellt oder missbräuchlich - etwa durch Täuschung - erlangt wurden. Dasselbe muss gelten, wenn ein dritter Arbeitgeber die E 101-Bescheinigungen unzulässigerweise im Entsendestaat ohne Beteiligung oder Mitwisserschaft des deutschen Arbeitgebers erlangt hat und letzterem die ausländischen Arbeitnehmer überlassen wurden, so dass er - als Entleiher - nach deutschem Recht (auch) als Arbeitgeber zu behandeln ist (vgl. §§ 10 Abs. 3 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz [AÜG]; 28 Abs. 2 SGB IV). Umgekehrt sollte eine E 101-Bescheinigung, die nicht nur inhaltlich unrichtig, sondern möglicherweise gefälscht ist, im Rechtsverkehr nicht gebraucht werden. Andernfalls wäre eine Strafbarkeit des deutschen Arbeitgebers wegen Urkundenfälschung durch Gebrauch einer unechten oder verfälschten Urkunde (§ 267 Abs. 1, 3. Alt. StGB) und wegen Betrugs (§ 263 StGB) zu befürchten. Zugleich wäre mangels einer wirksamen E 101-Bescheinigung die Versicherungspflicht - und damit eine Strafbarkeit gemäß § 266a StGB - gegeben. Darüber hinaus ist die Mitwirkung eines deutschen Arbeitgebers an einem täuschenden Verhalten gegenüber den zuständigen Stellen des anderen Mitgliedsstaats möglicherweise als Betrugs- oder Falschbeurkundungsstraftat nach dem Recht des ausstellenden Mitgliedsstaats anzusehen. Aus der Entscheidung des BGH kann nämlich nur gefolgert werden, dass deutsche Gerichte und Behörden durch den Inhalt der Bescheinigung gebunden werden, nicht jedoch die Strafverfolgungsbehörden des ausstellenden Mitgliedsstaats. Zu beachten ist außerdem, dass die deutsche Bindungswirkung nicht eintritt, wenn der Versuch der missbräuchlichen Erlangung einer Bescheinigung im Entsendestaat scheitert. Unter diesen Umständen kommt - im Falle einer vorsätzlichen Beteiligung des deutschen Arbeitgebers - eine Strafbarkeit wegen versuchten Betrugs (§§ 263 Abs. 2, 22, 23 StGB) oder versuchter mittelbarer Falschbeurkundung (§ 271 Abs. 1 und 4 StGB) in Betracht. Es ist weiter zu bedenken, dass die Behörden des Entsendestaats eine erschlichene E 101-Bescheinigung wohl zurücknehmen werden, falls ihnen deutsche Behörden oder Dritte deren Unrichtigkeit nachweisen. Fehlt es wegen Täuschung an einem berechtigten Vertrauen des Arbeitgebers, kann die Behörde die Entsendebescheinigung auch mit Wirkung für die Vergangenheit aufheben. In diesem Fall werden die Arbeitnehmer rückwirkend in Deutschland sozialversicherungspflichtig und den Arbeitgeber treffen - innerhalb der Verjährungsfrist von vier Jahren und bei Vorsatz von 30 Jahren (§ 25 Abs. 1 SGB IV) - erhebliche Nachzahlungsforderungen. Eine Strafbarkeit nach § 266a StGB kommt jedoch nur für nach Aufhebung der Bescheinigung nicht abgeführte Beiträge in Betracht, da das Strafrecht keine Rückwirkung kennt.

Praxistipp

Von der Mitwirkung bei der Beantragung inhaltlich unrichtiger Entsendebescheinigungen unter Verwendung falscher tatsächlicher Angaben ist trotz des BGH-Urteils aufgrund der verbleibenden strafrechtlichen Risiken dringend abzuraten. Echte, wirksame E 101-Entsendebescheinigungen, die dem Arbeitgeber vorgelegt werden, kann dieser dagegen - aus strafrechtlicher Sicht - zum Beleg der nicht bestehenden Abgabepflicht heranziehen, auch wenn sie inhaltlich zweifelhaft oder sogar offensichtlich unrichtig erscheinen, solange sie nicht aufgehoben sind. Es verbleibt jedoch das Risiko von Beitragsnachzahlungen, wenn die Bescheinigungen durch den Mitgliedsstaat rückwirkend aufgehoben werden. Der Arbeitgeber sollte sich deshalb (beim Arbeitnehmer oder Verleiher) zumindest des Umstands versichern, dass die Bescheinigungen noch wirksam sind und kein entsprechendes Verwaltungsverfahren läuft. Darüber hinaus empfiehlt es sich, Umstände, die für eine inhaltliche Richtigkeit sprechen, festzuhalten. Auch sollte der Arbeitgeber prüfen und dokumentieren, dass es keine Anzeichen für eine (Ver-)Fälschung der Bescheinigung gibt und diese von der zuständigen Behörde stammt, da nur eine echte Bescheinigung der richtigen Stelle deutsche Behörden und Gerichte bindet. Entsendebescheinigungen von Nichtmitgliedsstaaten sollten nur verwendet werden, wenn sie nicht einen offensichtlich unzutreffenden Entsendevorgang belegen, d.h. der bescheinigte Vorgang plausibel wirkt und der Arbeitgeber keine gegenteiligen Erkenntnisse hat.

RA Markus Rübenstahl, Mag. iur., White & Case LLP, Frankfurt

Redaktion (allg.)

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