Das Ende der "Rosinentheorie"

Die in einem Arbeitsvertrag getroffene Regelung zu Kündigungsfrist und Kündigungstermin ist in der Regel als Einheit zu betrachten, sofern keine anderen Anhaltspunkte ersichtlich sind. Bei dem Vergleich, ob die vertragliche oder die gesetzliche Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist, ist daher ein Gesamtvergleich vorzunehmen.

BAG, Urteil vom 4. Juli 2001 - 2 AZR 469/00 § 622 BGB

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Bild: beeboys/stock.adobe.com
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Problempunkt

Der Kläger war bei der Beklagten seit 1971 beschäftigt; in seinem Anstellungsvertrag vom August 1973 war geregelt, dass dieser mit einer Frist von drei Monaten zum Quartalsschluss gekündigt werden kann. Im April 1999 sprach die Beklagte dem Kläger die Kündigung zum 30. November 1999 aus. Dieser vertrat die Auffassung, dass das Arbeitsverhältnis erst mit dem 31. Dezember 1999 beendet worden sei, da die vertraglich vereinbarte dreimonatige Kündigungsfrist durch die gesetzliche Kündigungsfrist von nunmehr sieben Monaten ersetzt worden wäre; aufgrund der arbeitsvertraglichen Regelung könne eine Kündigung jedoch nur zum Quartalsschluss erfolgen.

Entscheidung

Die Klage ist in allen Instanzen erfolglos geblieben. Das BAG hat seine Entscheidung damit begründet, dass für die gegenüber dem Kläger ausgesprochene Kündigung die gesetzliche Frist des § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB von sieben Monaten zum Monatsende galt, die von der Beklagten eingehalten worden ist. Diese Bestimmung habe als für den Kläger günstigere Regelung die vertragliche Vereinbarung verdrängt. Unter entsprechender Anwendung seiner Rechtsprechung zu tariflichen Kündigungsfristen (z.B. BAG, Urt. v. 14.2.1996 - 2 AZR 166/95) vertritt der Senat die Auffassung, dass es möglich ist, die Grundkündigungsfrist für den Arbeitnehmer günstiger zu gestalten, es hinsichtlich der verlängerten Kündigungsfristen aber bei der gesetzlichen Regelung zu belassen. Eine derartige Konstellation sieht der Senat vorliegend als gegeben, so dass die Parteien mit der vertraglichen Regelung lediglich die seinerzeit geltende Grundkündigungsfrist zugunsten des Klägers verbessert hatten. Für eine entsprechende abweichende Regelung auch bei den Erhöhungsstufen für Beschäftigungszeiten von über zwölf Jahren sieht das Gericht demgegenüber keine Grundlage. Auch hinsichtlich einer isolierten Festlegung des Kündigungstermins auf das Quartalsende hat das BAG keine Anhaltspunkte für einen entsprechenden Parteiwillen erkannt. Selbst wenn eine solche Vereinbarung über den Kündigungstermin zwischen den Parteien getroffen worden wäre, würde diese nicht zu dem vom Kläger gewünschten Ergebnis führen, da es dann auf den Günstigkeitsvergleich ankommt. Unter Berufung auf Rechtsprechung und Literatur vertritt der Senat die Auffassung, dass Kündigungsfrist und -termin in der Regel eine Einheit darstellen und daher nur durch einen Gesamtvergleich festgestellt werden kann, ob die vertragliche oder die gesetzliche Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist. Von einer solchen Gesamtbetrachtung gehe auch der Gesetzgeber aus, wie sich dies aus den Regelungen in § 622 Abs. 4, Abs. 5 Satz 2 BGB über tarif- bzw. individualvertragliche abweichende Kündigungsfristen ergebe. Eine isolierte Betrachtung der Kündigungsfrist oder des -termins komme nur aufgrund konkreter, eindeutiger Anhaltspunkte in Betracht, deren Vorliegen das BAG hier verneint hat. Der Gesamtvergleich führt vorliegend daher in jedem Fall zu dem Ergebnis, dass die gesetzliche Regelung für den Kläger günstiger war als die vertragliche Vereinbarung.

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Konsequenzen

"Das BAG hat nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass bei divergierenden Kündigungsregelungen unter Berücksichtigung der jeweils zusammengehörenden Fristen und Termine ein Vergleich zwischen der gesetzlichen Bestimmung einerseits und der vertraglichen Vereinbarung andererseits vorzunehmen ist, um das für den Arbeitnehmer günstigere Ergebnis festzustellen. Sofern nicht im Einzelfall konkrete Umstände ergeben, dass bestimmte Kündigungstermine zwischen den Parteien ausdrücklich beabsichtigt worden sind, kommt es zukünftig nicht mehr in Betracht, die gesetzliche Frist mit dem vertraglichen Kündigungstermin oder umgekehrt zu kombinieren, so dass eine derartige ""Rosinenpickerei"" für die Zukunft ausgeschlossen ist. Ein solcher Günstigkeitsvergleich ist allerdings nur dann durchzuführen, falls der Arbeitsvertrag tatsächlich eine eigenständige Kündigungsregelung enthält, also nicht, wenn in diesem lediglich deklaratorisch auf die gesetzlichen Regelungen verwiesen wird. Sofern sich - sei es aufgrund des Wortlauts einer vertraglichen Regelung, sei es aufgrund von deren Auslegung - ausnahmsweise ergibt, dass die Parteien tatsächlich eine Vereinbarung über konkrete Kündigungstermine getroffen haben, verbleibt es auch nach der Entscheidung des BAG dabei, dass dann - in Kombination mit der gesetzlichen Kündigungsfrist - der vertragliche Termin maßgeblich ist. Das Gericht hat leider ausdrücklich offen gelassen, ob der Günstigkeitsvergleich abstrakt - maßgeblich wäre die längere Kündigungsfrist innerhalb des Kalenderjahres - oder konkret im jeweiligen Einzelfall durchzuführen ist. Seinen Ausführungen zufolge scheint das BAG jedoch eher zu einer abstrakten Betrachtung zu neigen. Dies könnte im Einzelfall allerdings zu der Konsequenz führen, dass sich der Arbeitnehmer nicht auf eine vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist berufen kann, obwohl sie im konkreten Fall für ihn günstiger wäre. Dann würde aber die gesetzliche Möglichkeit einer Verlängerung der gesetzlichen Kündigungsfristen zugunsten des Arbeitnehmers ins Leere laufen. Insoweit ist abzuwarten, ob das BAG noch einmal die Gelegenheit erhalten wird, sich mit diesem Thema zu befassen und sodann auch diese Frage zu klären.

"

Praxistipp

Im Falle der beabsichtigten Kündigung eines Arbeitnehmers hat ein Arbeitgeber zu prüfen, ob eine von den gesetzlichen Kündigungsfristen abweichende vertragliche Vereinbarung besteht. Sofern dies der Fall ist, hat er zu vergleichen, welche der beiden - jeweils für sich zu betrachtenden - Regelungen für den Arbeitnehmer günstiger und daher der Kündigung zugrunde zu legen ist. Solange das BAG nicht geklärt hat, ob diese Berechnung abstrakt oder konkret vorzunehmen ist, sollte der Arbeitgeber rein vorsorglich beide Berechnungen vornehmen und - wenn er in Bezug auf den Zeitpunkt einer wirksamen Kündigung ganz sichergehen will - die Kündigung mit der längsten Frist bzw. zum spätesten Zeitpunkt aussprechen. Ansonsten muss er die Gefahr etwaiger Gehaltsnachzahlungen ohne den Erhalt einer Gegenleistung in Kauf nehmen.

RA Dr. Werner Holtkamp, Düsseldorf

Redaktion (allg.)

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