Betriebliche Übung bei irrtümlicher Leistung

1. Geht der Arbeitgeber irrtümlich davon aus, nach Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung verpflichtet zu sein, eine bestimmte Leistung zu gewähren, kann trotzdem eine betriebliche Übung entstehen.

2. Keine betriebliche Übung entsteht, wenn der Tarifvertrag oder die Betriebsvereinbarung missverständlich war und die Arbeitnehmer deshalb mit einer fehlerhaften Umsetzung rechnen mussten.

3. Es bleibt offen, ob im öffentlichen Dienst weiter reichende Zahlungskorrekturen möglich sind.

(Leitsätze des Bearbeiters)

BAG, Urteil vom 29. August 2012 – 10 AZR 571/11

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Bild: Erwin-Wodicka / stock.adobe.com
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Problempunkt

Der klagende Busfahrer erhielt jährlich eine tarifliche Weihnachtszuwendung und eine Sonderzuwendung, deren Höhe eine Betriebsvereinbarung bestimmte. Von 1991 bis 2005 wurden daneben noch weitere Beträge in den Lohnabrechnungen ausgewiesen und gezahlt, nämlich eine "Weihnachtszuw. a. D-Zuschl." und eine "Sonderzuw. a. D-Zuschl.". Diese Zuwendungen aus Durchschnittszuschlägen stellte die Beklagte im Jahr 2006 ein. Sie seien irrtümlich gewährt worden.

Für die Berechnung der tariflichen Weihnachtszuwendung und der betrieblichen Sonderzuwendung sollten jeweils die laufenden Arbeitsbezüge maßgeblich sein. Der Rahmentarifvertrag definierte:

"Die laufenden Arbeitsbezüge bestehen aus der nach dem Vergütungstarifvertrag für die regelmäßige Arbeitszeit zu zahlenden Tabellenvergütungsowie aus etwaigen, ständig wiederkehrenden Arbeitszulagen und -zuschlägen (z. B. Dauerzulagen, Schichtzulagen, Fahrdienstzulagen, ständige Prämien). Nur zeitweise zu zahlende Arbeitsbezüge (z. B. stundenweise anfallende Zeit- und Erschwerniszuschläge) rechnen nicht zu den laufenden Bezügen, es sei denn, dass sie pauschaliert sind."

Der Kläger hielt die Beklagte für verpfl ichtet, ihm die Zuwendungen aus den Durchschnittszuschlägen weiterzugewähren. Er verlangte für 2006 bis 2009 diverse Differenzbeträge von je ca. 450 bis 600 Euro. Die Beklagte berief sich auf ihren Irrtum, den im Jahr 2000 nicht einmal der Wirtschaftsprüfer bei einer Revision entdeckt habe. Auch müsse ein Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst stets davon ausgehen, dass der Arbeitgeber keine überobligatorischen Leistungen erbringen wolle. Arbeitsgericht und LAG gaben der Klage statt.

Entscheidung

Das BAG schloss sich der Auffassung der Vorinstanzen an und wies die Revision der Beklagten zurück. Der Kläger hat aufgrund betrieblicher Übung einen Anspruch aus § 611 BGB auf die Zuwendungen aus Durchschnittszuschlägen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG setzt eine betriebliche Übung voraus, dass der Arbeitgeber regelmäßig Zahlungen oder ein anderes Verhalten wiederholt. Die Arbeitnehmer müssen dieses Verhalten nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) so verstehen dürfen, dass er ihnen einen dauerhaften Anspruch auf die Leistung oder die Vergünstigung anbietet. Indem sie die Leistung widerspruchslos akzeptieren, nehmen sie auch das Vertragsangebot stillschweigend an (§ 151 BGB).

Eine betriebliche Übung kann auch Ansprüche auf übertarifliche Leistungen begründen (BAG, Urt. v. 24.3.2010 – 10 AZR 43/09). Eine gegenläufige betriebliche Übung, die mittels mehrfacher Vorbehalte den Anspruch eines Arbeitnehmers wieder aufheben konnte, hat das BAG zwischenzeitlich ausgeschlossen (Urt. v. 18.3.2009 – 10 AZR 281/08, AuA 8/09, S. 487). Die Beklagte konnte sich daher nicht mehr damit verteidigen, dass sie ab 2006 die Zuwendungen aus den Durchschnittszuschlägen tatsächlich gestrichen habe.

Wie der Kläger das Verhalten der Beklagten verstehen durfte, beurteilte das BAG vor allem nach dem Rahmentarifvertrag, der die Berechnungsweise der Zuwendungen genau beschrieb. Danach waren Zuschläge von der Berechnung der Weihnachts- und der Sonderzuwendung ausgenommen. Folglich hatten die Zuwendungen aus den Durchschnittszuschlägen keine Basis in den Kollektivvereinbarungen. Die Arbeitnehmer durften daher in den Jahren 1991 bis 2005 davon ausgehen, dass die Beklagte dauerhaft überobligatorisch zahlen wollte.

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Konsequenzen

Die Nagelprobe, ob der Arbeitgeber eine Leistung später auf das kollektivvertragliche Maß reduzieren darf oder nicht, besteht darin, ob die Arbeitnehmer den Irrtum nachvollziehen konnten:

> Hielt sich eine Leistung immer im Rahmen einer denkbaren Lesart des Tarifvertrags oder der Betriebsvereinbarung, darf das Unternehmen den Irrtum auch Jahre später noch korrigieren (BAG, Urt. v. 17.3.2010 – 5 AZR 317/09, DB 2010, S. 1406 f.).

> Ließ sich aber die Kollektivvereinbarung gar nicht missverstehen, sondern hat sie der Arbeitgeber bewusst oder unbewusst falsch umgesetzt, muss er sich an der jahrelangen Übung festhalten lassen.

Ob im öffentlichen Dienst wie bei korrigierenden Rückgruppierungen (BAG, Urt. v. 20.4.2011 – 4 AZR 368/09, NZA-RR 2011, S. 611) auch bei anderen Zahlungsirrtümern ein Auslegungsprivileg gilt, ließ das BAG offen. Jedenfalls findet die Regel von der (ggf. falschen) Wissens- statt der (ggf. überobligatorischen) Willenserklärung keine Anwendung, wenn der Arbeitgeber nur funktional zur öffentlichen Daseinsvorsorge beiträgt, ohne auch organisatorisch eine Dienststelle zu sein.

 

Praxistipp

Arbeitgeber sind gut beraten, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen inhaltsgetreu umzusetzen. Falsche Großzügigkeit oder Laxheit kann teuer werden, wenn sich später überobligatorische Personalkosten nicht mehr abbauen lassen. Für arbeitsvertragliche Vorbehalte wird die Luft immer dünner (BAG, Urt. v. 8.12.2010 – 10 AZR 671/09; v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, AuA 7/12, S. 437). Daher können Arbeitgeber vor allem Betriebsvereinbarungen gem. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG und ihre mitbestimmungsfreie Dotierung nutzen, um freiwillige Leistungen auch in Zukunft zu steuern.

RA Dr. Markus Sprenger, Mannheim

Redaktion (allg.)

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